Lieblingsmomente: Roman
verstanden. Und wenn doch, hätte es ihm womöglich das Herz gebrochen.
Und was habe ich stattdessen getan? Ich habe ihn geschützt, genickt, gesagt, es sei nur ein Schnappschuss, nichts Besonderes. Eine weitere Party-Knipserei. Oliver weiß nicht einmal, wie weh mir das tut, weil ich es ihm nie gesagt habe. Vielleicht hätte ich das tun sollen, aber ich habe stattdessen meine Träume Stück für Stück aufgegeben, den Schmerz betäubt und mir eingeredet, dass es normal und okay sei. Aber Tristan und sein Verständnis, sein Blick, seine Worte und jetzt dieses kleine Handbuch voller Liebe, all das hat mich aus diesem Tiefschlaf geweckt. Ich muss in meinem Leben so einiges ändern, wenn ich wieder glücklich sein möchte. Und das möchte ich.
Ich trinke den letzten Schluck meines Cocktails und lese weiter – will weiter. Es gibt noch so viele Plätze, die ich durch Tristans Augen sehen will.
Ich nehme die U-Bahn und steige an der Haltestelle Mineralbäder aus. Von dort aus laufe ich durch den Park bei der Villa Berg. Wann immer ich etwas Interessantes sehe, fotografiere ich es. Graffiti an den Wänden, Jungs auf Skateboards, Wartende bei der S-Bahn-Station, Spaziergänger im Park, Kinder auf dem Spielplatz … Ich folge Tristans Worten durch den Unteren Schlossgarten, das habe ich schon viel zu lange nicht mehr getan. Ich sehe knutschende Pärchen auf der Bank, auf der Decke, an der Ampel. Überall. Sie küssen sich, wann immer ihnen danach ist. Es schert sie nicht, wer sie sieht, was diese Leute denken, es geht nicht um andere. Sie sehen sich gegenseitig tief in die Augen und vergessen die Welt. Ich wünsche mir nur, ihnen mehr zu gleichen. Nicht auf andere zu achten, sondern nur auf mich selber. Und hier bin ich und mache den ersten Schritt in die richtige Richtung. Von Entdeckerlust gepackt steige ich wieder in die U-Bahn und fahre ins Herz Stuttgarts. Ich knipse das, worauf ich Lust habe, suche und finde all die Motive, die ich lange nicht mehr wahrgenommen habe, weil sie mich zu sehr an den schmerzlich schlummernden Traum in meinem Inneren erinnert haben. Jetzt sehe ich sie wieder, und sie inspirieren mich zu Höchstleistungen. Ich finde spontan den richtigen Winkel, ich finde das passende Licht. Alles geht mir so leicht von der Hand. Ich kann das Lächeln auf meinen Lippen spüren und höre das Schlagen der Flügel in meinem Kopf, in meinem Herz, ja überall. Ich weigere mich, es zu unterdrücken, es zu leugnen. Ich will es, genau so.
Tristan ist bei meinem Feldzug durch die Stadt immer bei mir. Zumindest fühlt es sich so an. Er schaut mir über die Schulter, er führt meine Hand, seine Worte klingen wie ein Ansporn in meinem Inneren und hallen dort wider. Der prüfende und sichere Blick, so wie damals, als er die Bilder an der Wand in meinem Büro betrachtet hat, stelle ich es mir vor. Bei manchen Fotos spüre ich seine Präsenz so deutlich, dass ich mich dabei ertappe, wie ich mich umschaue und hoffe, ihn irgendwo zu sehen. Aber er ist nicht da. Er ist in Südfrankreich. Mit Helen. Anders als Tristan, der Autor, der mit mir durch Stuttgart streift, hat der echte Tristan genau das getan, was auch Oliver heute getan hat: Abstand zwischen sich und mich gebracht. Und doch sind mir seine Gesten, Berührungen und vor allem seine Worte näher als jemals zuvor und inspirieren mich. Mit dieser Motivation fotografiere ich einfach weiter. Ich könnte aber auch nicht aufhören, selbst wenn ich wollte.
Ich bemerke nicht, wie die Zeit vergeht oder wie weit ich schon zu Fuß durch die Stadt gewandert bin. Ich höre nicht die Anrufe in Abwesenheit oder den Signalton für eine erhaltene SMS. Ich bin in einer anderen Welt, und ich fühle mich dort wohl. Fast so, als würde ich nach einer langen Zeit wieder nach Hause kommen. Nach einer richtig langen Zeit. So als würde man die Eltern besuchen, daheim in der Gegend, wo man aufgewachsen ist.
Ich muss immer häufiger die Blende neu einstellen, und nur dadurch bemerke ich, dass die Dämmerung bereits eingesetzt hat. Es wird dunkel, und ich bin auf der Königstraße, in der Nähe vom Hauptbahnhof. Wenn ich jetzt meinen Fußmarsch antrete, bin ich in einer knappen halben Stunde zu Hause. Ich könnte ein Taxi nehmen, aber ich entscheide mich für die S-Bahn, denn ich habe noch nicht genug, und wo sonst findet man so viele unterschiedliche Menschen, die ich jetzt alle wie kleine Gemälde auf meine Speicherkarte banne. Ohne ihr Wissen. Wie ein Spion, ein Voyeur. Es ist
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