Liebster Mitbewohner
Blick zu. Die zehn sahen mich ungläubig an. Einige rollten mit den Augen, einer stöhnte sogar genervt auf. Doch dann erhoben sie sich brav, drängten sich mit dem Hinterteil gegen ihre hochgeklappten Sitze und ließen mich durchrutschen. Ich rempelte mehr als einen an und stolperte über mindestens zwei Rucksäcke. Normalerweise hätte ich mich dafür entschuldigt oder wäre zumindest peinlich berührt gewesen. Vor allem, weil der Professor, der mittlerweile hinter dem Podium stand, mich ebenfalls mit gehobenen Augenbrauen beobachtete. Seltsamerweise war mir all das heute egal. Schon bald würde ich nicht mehr hier sein. Es war gleichgültig, was sie alle von mir dachten.
Als ich mich neben Selina setzte, drehte sie sic h überrascht zu mir um. „Maja.“ Doch sie wirkte ehrlich erfreut mich zu sehen.
Der Professor, von dem ich nicht mal den Namen kannte, räusperte sich. War der neu? Ich hatte ihn noch nie gesehen. Aber in letzter Zeit hatte ich auch nicht gerade alle Vorlesungen besucht.
„Wenn dann auch die Damen in der dritten Rehe so weit wären?“, fragte er ins Mikro.
Selinas Augen weiteten sich erschrocken. Sie wandte sich dem Podium zu und nickte heftig. Wahrscheinlich war es das allererste Mal , dass sie in der Uni wegen irgendetwas negativ aufgefallen war.
Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen.
Der Professor räusperte sich noch einmal und begann mit seiner Vorlesung.
Ich lehnte mich entspannt zurück. Um mich herum machte sich jeder Notizen – entweder ganz altmodisch auf einem Blatt Papier oder mittels eines mitgebrachten Notebooks. In einem Monat standen die Klausuren an. Der allgemeine Eifer war nicht verwunderlich.
Kurz dachte ich an die Zettel in meiner Tasche, doch entschied mich gegen das Mitschreiben. Wozu? Selbst wenn ich mich entschloss, dass nächste Semester noch weiter zu studieren, wären die Noten, die ich erzielte, unbedeutend. Das Studium würde ich ohnehin nicht beenden.
So wurde die Vorlesung zu einer ganz neuen Erfahrung für mich. Statt in Rekordgeschwindigkeit so viel wie möglich des Gesagten schriftlich festzuhalten, hörte ich das erste Mal wirklich zu. Und es war gar nicht mal so übel. Strafrecht war für mich von Anfang an mit Abstand das interessanteste Fach gewesen. Und plötzlich wusste ich wieder, wieso. Weil es wirklich interessant war, wenn man es nur zuließ.
Als nach der Vorlesung alle ihre Taschen zusammenpackten, stupste mich Selina an. „Ich dachte, du kommst nicht mehr.“
Ich zuckte mit den Achseln und stand auf. „Hatte ich auch nicht vor. Das heute ist eher ein Zufall.“
„Willst du ganz aufhören?“
Ich nickte.
„Wieso?“ In Selinas Stimme schwang nicht der Hauch einer Wertung mit.
Ich rutschte seitlich aus der Sitzreihe heraus. Selina folgte mir.
„Es interessiert mich einfach nicht.“
„Da hatte ich eben aber einen anderen Eindruck.“
Ich fühlte mich ertapp t. „Na ja, ohne jeglichen Prüfungsdruck ist Strafrecht vielleicht gar nicht so übel. Das Problem ist nur, dass man im Studium niemals keinen Druck hat. Und Jura eben nicht nur aus Strafrecht besteht.“
Wir hatten die Treppe erreicht und mischten uns unter die Menschenmenge, die gen Ausgang strebte.
„Selbst wenn man Druck hat, kann man sich trotzdem für den Stoff interessieren. Aber wenn du nur wie eine Maschine mitschreibst, ohne das Gesagte überhaupt zu verarbeiten, muss es ja öde sein. Das liegt dann aber weder am Studiengang noch am Vorlesungsinhalt.“
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
„Ehrlich, Maja, am Anfang hat dir Jura doch Spaß gemacht.“
Ich zuckte nur mit den Achseln, weil ich mittlerweile zu dem Schluss gekommen war, dass jemand wie Selina meinen Standpunkt ohnehin nicht verstehen würde. Sie liebte diesen Studiengang schließlich abgöttisch.
„Du, ich muss direkt weiter zu Zivilrecht. Da willst du wahrscheinlich nicht mit hin, oder?“ Sie grinste.
Ich schüttelte den Kopf, musste aber ebenfalls lächeln.
Selina zog mich auf die Seite, damit wir den hinter uns aus dem Saal strömenden Studenten nicht im Weg standen. „Eins noch: Es ist dir wahrscheinlich nicht klar, aber auch mir macht das Ganze hier nicht immer Spaß. Auch ich denke nicht ununterbrochen: Jura ist das Größte, Jura ist mein Leben. Und auch ich hatte während der letzten drei Semester Zeiten, in denen ich gezweifelt habe, ob das hier wirklich das ist, was ich machen möchte. Aber ich bin froh, dass ich dran geblieben bin. Denn früher oder
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