Liebster Mitbewohner
Stadt war, kam er zu mir. Nur zu mir. Er hat hier sonst keine Freunde. Und seinen Eltern stattet er nur Anstandsbesuche ab – eigentlich hat er zu ihnen ein ähnliches Verhältnis wie ich zu meiner Mutter.“
„Er versteht sich nicht mit seinen Eltern?“ Endlich wieder mal eine handfeste Information. „Wieso nicht?“
„Das ist doch jetzt egal, Maja! Er war die ganze Nacht allein da draußen. Vielleicht ist er tot!“
Zugegeben: Langsam machte ich mir auch Gedanken um Felix. Aber Daniel übertrieb ja wohl maßlos.
Anscheinend erriet er meine Gedanken. „Menschen tun die seltsamsten Dinge, wenn es ihnen nicht gut geht. Da weiß man nie“, rechtfertigte er sich.
„Denkst du, er tut sich was an?“, fragte ich skeptisch. Ich kannte Felix zwar nicht besonders gut, aber das konnte ich mir wirklich nicht vorstellen.
„Nein“, gab Daniel zu. Zerstreut fuhr er sich durchs Haar und füllte meine Tasse mit dem letzten Rest Kaffee aus der Maschine. „Aber denk doch mal nach: Es ist eisig kalt. Wenn er irgendwo auf einer Bank eingeschlafen ist, könnte er erfroren sein.“
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. „Trink den Kaffee“, befahl ich. „Vorher führen wir dieses Gespräch nicht weiter. Du bist völlig irrational.“ Nachdem ich ihn mehrere Male schlucken gehört hatte, sagte ich: „Gerade weil es draußen so kalt ist, wäre er gar nicht erst eingeschlafen.“
„Und wenn er getrunken hat?“, hielt Daniel dagegen.
„Von welchem Geld soll er sich Alkohol kaufen? Ich denke, er hat nichts.“
„Auch wahr. Was er hat te, hat er mir als Teil der Miete gegeben.“
„Na also.“ Das Piepen eines Handys ließ uns beide aufschrecken. Wir sahen uns an. „Nun sieh schon nach!“, zischte ich.
Daniel blickte auf das Display. „Nichts.“
Ich blinzelte verwirrt, bis mir klar wurde, was das bedeutete. Ich kramte mein Handy aus der Hosentasche. Tatsächlich. Ich hatte eine SMS bekommen.
„Stell gefälligst deinen SMS-Signalton um“, meckerte Daniel. „Das macht einen ja wahnsinnig, wenn man nicht weiß, welches Handy gerade piepst.“
„Stell du doch deinen um.“ Die SMS war von Elena. Sie schrieb, dass sie mir gegen fünf Uhr meine Sachen bringen würde. Ich seufzte und steckte das Handy weg. Auf keinen Fall würde ich es noch acht Stunden mit Daniels Paranoia aushalten.
Einem spontanen Einfall folgend stand ich auf.
„Was machst du?“, wollte Daniel wissen.
„Ich geh zur Uni. Um elf fängt die Vorlesung zu Strafrecht 3 an.“
Daniel starrte mich an.
Ich hatte keine Zeit zu warten, bis er sich wieder gefangen hatte. Wenn ich pünktlich sein wollte, musste ich los. „Ich weiß, dass ich gesagt habe, dass Jura mir keinen Spaß macht und ich aufhören will“, griff ich deshalb Daniels Fragen vor. „Aber noch bin ich eingeschrieben und gerade habe ich nichts Besseres zu tun. Also geh ich einfach hin. Bis später.“ Ich angelte mir meine Handtasche aus Felix‘ Zimmer, stopfte noch ein paar gefaltete Seiten Papier und einen Kuli hinein und verließ die Wohnung. Bevor ich die Tür hinter mir zuwarf, rief Daniel mir noch etwas hinterher, das ich nicht verstand. Ich ging nicht zurück, um nachzufragen. Mir war klar, dass sein Kommentar kein Kompliment gewesen war.
Ich erreichte den Hörsaal um fünf Minuten vor elf. Die Vorlesung fand in einem der größten Säle der Universität statt – trotzdem war er voll. Die Sitzplätze verliefen in einem Halbkreis um das Podium . Wie im Kino war jede Reihe etwas höher als die vorherige platziert. Ich blieb an der obersten Treppenstufe stehen und suchte die Reihen mit den Augen ab. Irgendjemand da, den ich nicht nur kannte, sondern auch mochte? Schließlich entdeckte ich den langen blonden Zopf von Selina. Sie saß in der dritten Reihe von vorne ganz in der Mitte. Wahrscheinlich war sie mehr als eine halbe Stunde vor Vorlesungsbeginn hier gewesen. Selina war überaus strebsam und ehrgeizig, was ich bei diesem Studiengang nicht ganz nachvollziehen konnte. Doch sie war auch aufgeschlossen und hilfsbereit. Sie redete angeregt mit einer Kommilitonin zu ihrer Rechten. Links von ihr war ein Höflichkeitsplatz freigelassen worden. Die zehn Plätze von da bis zum Gang waren von einer anscheinend zusammengehörenden Gruppe besetzt.
Ich warf einen Blick auf die riesige Uhr, die über dem Podium an der Wand hing. Eine Minute vor elf. Ich trabte die Stufen hinunter, stellte mich neben die dritte Reihe von vorne und warf der Gruppe einen auffordernden
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