Liebster Mitbewohner
wegbleibt ohne mir Bescheid zu sagen und ihm ein Gammelnachmittag vor dem Fernseher wichtiger ist als mir einen Gefallen zu tun. Wem wäre so was egal?“
Ich erwiderte nichts. Zum einen, weil ich die Frage für eine rhetorische hielt und zum anderen, weil Elena sehr aufgebracht war. Das kam selten vor, aber wenn es eintrat, konnte sie ziemlich biestig werden. Vor allem, wenn man sie zusätzlich mit sinnlosen Einwürfen, die sie nicht hören wollte, nervte.
„Ich hab es so satt“, fuhr sie fort. „Ständig an mich zu halten und mir zu sagen, dass ich ihn so nehmen muss, wie er ist. Eure Blicke und eure unausgesprochenen Gedanken, dass ich jemand so viel Besseren haben könnte. Jemanden, der besser aussieht als Steffen, der mehr verdient, der die Wohnung ordentlich halten und mir jeden Wunsch von den Augen ablesen würde. Und ihr habt Recht!“ Sie blickte mich auffordernd an.
Ich beeilte mich zu nicken: „Natürlich kannst du das.“ Und ich meinte es ernst. Elena war eine der hübschesten Frauen, die ich je gesehen hatte. Sie war intelligent, ehrgeizig, humorvoll und wirklich für jeden Spaß zu haben. Wenn ich ein Mann wäre, wäre sie meine absolute Traumfrau. Und ich hatte während der letzten Jahre tatsächlich mehrmals gedacht, was für eine Verschwendung es war, dass Elena sich ausgerechnet Steffen als Freund ausgesucht hatte. „Aber… willst du denn einen anderen?“, musste ich vorsichtig fragen.
Elenas Miene wurde noch eine Spur finsterer. „Vielleicht habe ich mich bei Steffen in was verrannt. Nach der Sache mit Alejandro war ich entschlossen, meinen nächsten Freund einfach so zu nehmen, wie er ist. Aber man kann es wohl auch übertreiben.“
„Bist du dir sicher?“
Elena schüttelte den Kopf. „Nein. Aber es ist anstrengend, meinen Freund ständig vor all meinen Freunden und Bekannten rechtfertigen zu müssen. Meine Familie kann ihn auch nicht leiden. Ich hab mir die ganze Zeit eingeredet, dass es egal ist und das war es mir auch meistens. Aber manchmal denke ich mir auch, dass da was dran sein muss, wenn alle, die ich gern hab, diese schlechte Meinung über Steffen teilen. Und manchmal wünsche ich mir, ich könnte meinen Freund zu meiner Familie oder meinen Freunden mitbringen.“
„Ich jedenfalls hab nie gesagt, dass du Steffen nicht mitbringen darfst!“
Elena lächelte bitter. „Brauchtest du auch nicht. Das war klar.“
Wir schwiegen lange.
„Und jetzt?“, fragte ich schließlich.
Elena zuckte mit den Achseln. „Ich hab e nicht die geringste Ahnung. Aber sag mal, wo ist denn dein unfreiwilliger Mitbewohner? Der Ausblick, ihn kennenzulernen, war heute der einzige Lichtblick für mich.“
Automatisch sah ich auf die Uhr. Halb fünf. Bald würde es wieder dunkel werden und Felix war immer noch nicht wieder aufgetaucht.
„Der ist verschwunden. Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung. Daraufhin ist er aus der Wohnung gestürmt und hat sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Das war gestern Abend. Daniel macht sich ziemliche Sorgen um ihn.“
„Wieso? Er ist doch erwachsen.“
„Meine Rede. Aber Daniel meint, er hätte niemanden in der Stadt, bei dem er bleiben könnte. Ich glaube, er hat ernsthaft Angst, dass Felix heute Nacht unter einer Brücke erfroren ist.“
„Im Ernst?“ Elena kämpfte sichtlich mit dem Lachen und gab dem Drang schließlich nach. „Das ist ja putzig.“
Ich freute mich, dass das Thema Elena aufzuheitern schien, wirklich. Und im Grund tat sie ja nichts anderes, als was ich gestern Abend noch getan hatte – sie machte sich über Felix‘ Verschwinden und Daniels Sorge lustig. Trotzdem irritierte mich die Leichtfertigkeit, mit der Ele na der Sache begegnete.
„Jetzt sag nicht, dass du dir auch Sorgen machst.“ Elena grinste immer noch.
„Natürlich nicht.“
„Tja, alte Schulschwärmereien aus dem Kop f zu bekommen ist schwerer als man denkt.“
„ Red‘ doch keinen Unsinn. Felix hat nichts mehr mit dem Jungen, für den ich damals geschwärmt habe, gemein.“
„Warum machst du dir dann Sorgen? Und versuch gar nicht erst, es noch mal abzustreiten. Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit.“
Ich zog die Beine eng an meinen Körper. Die Sonne stand schon so tief, dass es in kaum einer halben Stunde dunkel sein würde. „Ich befürchte, dass Daniel Recht haben könnte. Selbst wenn er niemanden hat, bei dem er die Nacht verbringen kann, würde er wahrscheinlich lieber die ganze Nacht draußen frieren, statt hier her
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