Liebster Mitbewohner
schief gelaufen war. Doch meine Gedanken schweiften unaufhörlich ab. Ich las den ersten Satz ein zweites und ein drittes Mal, ohne seine Bedeutung zu verstehen. Schließlich gab ich auf und ließ das Buch sinken. Meine Hand tastete nach dem Rucksack, zog den Reißverschluss auf und holte mein Handy heraus. Kein Anruf. Keine SMS. Betäubt steckte ich das Handy zurück in den Rucksack. Was, wenn sich meine Phantasien von vorhin nicht erfüllen würden? Wenn Leon mit seiner Entscheidung zufrieden war und sich nie wieder bei mir melden würde? Diese Möglichkeit kam mir plötzlich gar nicht so abwegig vor.
Es wäre leicht gewesen, mir einzureden, dass Leon sich einfach verändert hatte. Dass ich den Ma nn von heute Morgen gar nicht wieder erkannt hatte. Dass dies nicht derjenige war, in den ich mich damals verliebt hatte. Doch das war er. Leon war derselbe. Und ich war es auch. Wie also konnte es sein, dass ich ihn noch immer liebte, er aber über die Zeit seine Gefühle für mich abgelegt zu haben schien? Und wieso hatte ich es nicht bemerkt?
Wie konnte es sein, dass ich heute Morgen aufgestanden war und nicht die geringste Ahnung gehabt hatte, was heute auf mich zukommen würde? Dass Leon sich von mir trennen, ich ausziehen, Felix wieder treffen und diesem nun seine Privatsphäre rauben würde?
Mein Blick wanderte zum Bett. Hatte ich übertrieben? War ich aufgrund der Erlebnisse heute Morgen zu einer selbstsüchtigen Hexe mutiert? Ich versuchte, mich aus Felix’ Sicht zu sehen. Er legte ja offenkundig den größten Wert auf seine Ruhe. Hatte ich das Recht, ihm diese zu nehmen, nur weil es mir nicht gut ging? Doch dann musste ich daran denken, wie er mit mir umgegangen war. Wäre er ein wenig netter gewesen, hätte er mich mit dem Mindestmaß an Respekt behandelt, den man Menschen im Allgemeinen entgegenbrachte, wäre das alles nicht passiert. Davon war ich überzeugt.
Ich lehnte mich ein wenig zur Seite, um Felix ‘ Gesicht von vorne mustern zu können. Er wirkte so viel ernster als früher. Wie er auf die Zeitschrift in seiner Hand starrte kam er mir vor, als hätte er seit Wochen nicht mehr richtig gelacht. Ich runzelte die Stirn, als mir etwas auffiel: Felix’ Augen waren gar nicht auf die Zeitschrift gerichtet. Auf den ersten Blick sah es so aus, doch in Wirklichkeit starrten sie über das Magazin hinweg, ins Leere.
Die Erinnerung kam unvermittelt und völlig ü berraschend. Ich war wieder neunzehn Jahre alt und saß zusammen mit ein paar Freundinnen auf einer Bank in der Pausenhalle. Ich hörte Tina und Annabelle, die neben mir über die gestrige Matheklausur diskutierten, überhaupt nicht. Ich hatte nur Augen für Felix, der einige Meter entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite der Pausenhalle saß. Vor ihm stand Saskia, ein zierliches, dunkelhaariges Mädchen, von dem ich wusste, dass sie im selben Deutschkurs wie Felix war. Ich konnte sie nicht leiden. Wild gestikulierend redete sie auf Felix ein. Doch der sah das Mädchen nicht an, vielmehr blickte er an ihr vorbei ins Leere, genau in meine Richtung. Als mir klar wurde, dass er mit den Gedanken offensichtlich ganz woanders war und Saskia nicht einmal zuhörte, musste ich lächeln. Plötzlich fokussierte sich Felix’ Blick und richtete sich direkt auf mich. Unsere Augen trafen sich für einen Moment. Und Felix lächelte ebenfalls.
Ich blinzelte und sah wieder das Profil desselben, jedoch acht Jahre älteren Mannes vor mir. Und p lötzlich fand ich den Gedanken, dass wir beide auf diese Art und Weise möglicherweise Tage oder Wochen nebeneinander her leben würden, schlichtweg unerträglich.
„ Ähem“, sagte ich vorsichtig.
Felix blinzelte und drehte den Kopf in meine Richtung. Sein Blick war alles andere als freundlich. „Was?“
„Lass uns noch mal über alles reden, ja? Vielleicht finden wir eine Lösung für diese Situation.“
„Vielleicht habe ich mich vorhin nicht deutlich genug ausgedrückt – was ich bezweifle – aber ich sage es trotzdem noch mal: Ich will dich hier nicht haben. Ich will nicht mit dir reden und schon gar nicht will ic h, dass du in derselben Wohnung, geschweige denn im selben Zimmer wie ich wohnst. Daran wird kein Gespräch etwas ändern.“
Die offene Feindseligkeit in seinem Blick schüchterte mich ein. Ich war versucht, meine Sachen zu packen und zu gehen, diese unangenehme Situation einfach zu verlassen. Gleichzeitig regte sich die Wut in mir, die auch vorhin schon dazu geführt hatte, dass ich mir
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