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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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Das Haar klebt ihm in dunklen Spitzen an der Stirn. Er hat eine Schere in der Hand.
    »Kannst du mir helfen?«
    »Klar.« Kai stellt den Schwan wieder auf den Tisch.
    »Großartig!« Adrian nimmt den Schwan in die Hand. »Wo hast du das gelernt?«
    »Ich übe.« Er zuckt die Achseln und nimmt Adrian die Schere aus der Hand. »Was soll ich damit machen?«
    »Mir die Haare schneiden. Die machen mich wahnsinnig.«
    Kai steht auf und stellt sich hinter Adrian, er nimmt eine Strähne probeweise zwischen die Finger. »Hast du einen Kamm?«
    »Ja.« Adrian holt einen Kamm aus dem Schlafzimmer. Kai wählt eine Haarsträhne aus; die Konsistenz ist befremdlich nylonartig, die kleine Nagelschere greift kaum. Er schnippelt an ein paar Strähnen, hält inne, beobachtet das Zittern der Finger, die die Schere halten. Heute Morgen war er im OP – fast – gezwungen gewesen, einen anderen Chirurgen zu bitten, eine heikle Aufgabe zu übernehmen. Er war sogar so weit gegangen, sich zu überlegen, was er sagen, ob er behaupten könnte, er hätte etwas unter dem Augenlid, eine beliebige Ausrede, um den Raum verlassen zu können. Am Ende war es dann doch gut gegangen. Kai konzentrierte sich auf seine Atmung und schaffte es, das Zittern seiner Hand zu unterdrücken; nur einmal meinte er, den Blick der OP -Schwester auf sich zu spüren.
    Scharfe Haarsträhnen fallen auf den Fußboden.
    »Deine Frau wollte nicht, dass du herkommst.«
    »Nicht direkt.«
    Kai lässt sich Adrians Antwort kurz durch den Kopf gehen. »Das bedeutet Nein.«
    »Wenn ich ehrlich bin, habe ich ihr kaum Gelegenheit gelassen, Einwände zu erheben.«
    »Okay.«
    »Ich brauchte etwas anderes. Ich konnte den Blick heben und meine Zukunft sehen, die sich in der Ferne verlor. Ich wusste immer genau, was am nächsten Tag passieren würde. Ich fing an, mich zu fragen, ob es irgendwelche Auswirkungen auf das Leben auch nur eines meiner Patienten haben würde, wenn ich verschwände – ich meine, abgesehen von der rasch verfliegenden Verärgerung. Das war möglicherweise etwas gewagt.« Er lacht. »Aber du weißt, was ich meine.«
    Kai weiß nicht, was er meint. Trotzdem beschließt er, es nicht zu sagen. Das ist die Art, wie Europäer reden, als machte jeder die gleichen Erfahrungen wie sie. Adrians Ton suggerierte, dass nichts anderes nötig sei, als sich etwas zu wünschen. Ihnen stehen unerschöpfliche Möglichkeiten zu Gebote, sie verlassen ihr Zuhause, um etwas Neues zu erleben. Aber der Traum ist aus dem Stoff der Freiheit gewoben. Um existieren zu können, muss der Wunsch ein Element des Möglichen besitzen, und das hatte es für Kai nie gegeben – bis jetzt, bis zum Eintreffen von Tejanis Briefen. Darin liegt zum ersten Mal das Element des Möglichen, Zunder für das Flämmchen seines eigenen Wunsches. Er schaut sich Adrians Haar an, das jetzt überall plus/minus drei Zentimeter lang ist.
    »Ich glaub nicht, dass das so klappt«, sagt er. Und beobachtet, wie Adrians Finger über dem Horizont seines Kopfes erscheinen. »Warte. Ich gehe in den Laden und kauf eine richtige Schere.«
    Als Kai am Tag des Putsches das Krankenhaus verließ, versuchte keiner, ihn aufzuhalten, einfach deswegen, weil er keinem sagte, dass er gehen würde. Der direkteste Weg zu Nenebahs Haus führte durch das Stadtzentrum. Er sagte sich, dass niemand sonst auf die Idee kommen würde, dort entlangzugehen, und weiter reichte sein Plan nicht. Das Krankenhaus lag am Ende einer Straße, die rechtwinklig auf die Hauptstraße stieß. Die Straße war so leer gefegt, wie Kai sie noch nie gesehen hatte, selbst am frühen Morgen nicht. Er blieb in Bewegung, hielt sich dabei dicht an den Hauswänden. Ein Wagen, ein Toyota voll von Soldaten auf Spritztour, querte die Kreuzung, auf die er zulief. Kai blieb stehen und ging neben einer stinkenden Abwasserrinne in die Hocke. Das Fahrzeug zog vorüber und ließ eine Kielspur von Musik hinter sich. Die Melodie setzte sich in seinem Kopf fest. Hinter einer Hoftür aus Wellblech sah er das Gesicht eines Kindes, das ihn durch rostige Gucklöcher ansah. Kai legte einen Finger an seine Lippen. Er stand auf und ging auf demselben Weg zurück. Diesmal wählte er die Küstenstraße, die, wie eine Hängematte zwischen zwei höher gelegenen Vierteln ausgespannt, an ihrem tiefsten Punkt durch die Slums schnitt. Die Luft war schwer von Rauch, den beißenden Dünsten von brennendem Kraftstoff. Ein Auto näherte sich ihm mit überhöhter Geschwindigkeit. Kai sah flüchtig den

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