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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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sodass sein Kopf absurd groß erschien. Der kanadische Ehemann seiner Schwester stand offenbar hinter der Kamera. Der Ausflug war zweifellos dessen Idee gewesen. Seinen Eltern wäre nie in den Sinn gekommen, Wale zu beobachten. Sie verstanden den Sinn solcher Aktivitäten nicht: wegen der Aussicht auf einen Berg klettern, Postkarten mit einer einzigen Zeile Text verschicken. Außerdem gab es Wale hier direkt vor der Haustür; zu bestimmten Zeiten des Jahres konnte man sie vom Strand aus sehen.
    Seit seine Eltern fort waren, hielt sich Kai immer kürzer und seltener im Haus auf, und dann auch nur während der Nachtstunden. Die Wochenenden verbrachte er, wenn nicht mit Nenebah, dann mit Tejani, und wenn mit keinem von beiden, kehrte er einfach ins Krankenhaus zurück.
    An einem Sonntag hatten sie einen Bergarbeiter unterm Messer gehabt. Der Mann, ein Guineer, sprach nur Französisch. Man hatte sich für eine Periduralanästhesie statt für eine Vollnarkose entschieden, da keiner vorausgesehen hatte, als wie heikel sich die Operation erweisen würde. Ein Stahlstift zur Versorgung einer früheren Fraktur war in das Kniegelenk hinuntergerutscht und musste entfernt werden. Sie hatten Schwierigkeiten damit gehabt, die Stiftspitze im Oberschenkelknochen zu lokalisieren. Während der ganzen Zeit hatte der Mann, auf dem Rücken liegend, an die Decke gestarrt, ohne mit der Wimper zu zucken, während der Bohrer sich in seinen Knochen fraß.
    Als sie endlich den OP -Saal verlassen hatten, war die Stadt stockdunkel gewesen, sodass sie zunächst geglaubt hatten, es sei später, als es tatsächlich war. Im Aufenthaltsraum war von einem Putsch die Rede. Die Europäer gingen an die Telefone und versuchten, ihre Botschaften zu erreichen. Kai trat hinaus in die ausgangssperrenstillen Straßen. Unterwegs sah er andere, die wie Gespenster durch die engen Gassen abseits der Hauptverkehrsstraßen huschten. An einer Ecke stieß er mit jemandes Schulter zusammen. Der Mann streckte die Hand aus, um ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen, einen Augenblick später ging Kai auch schon weiter. Nicht ein Wort war gesprochen worden, der einzige Laut ein leises Grunzen beim Zusammenstoß.
    Der Mond war eine abnehmende Sichel, eine Schliere von Licht, die durch einen Schlitz im Himmel quoll. Gerade genug, um das Haus schwach zu umreißen. Kai wartete draußen, bis er sah, dass Nenebah das Wohnzimmer verließ. Er stand auf und bog um das Haus, ging parallel zu ihr, sie drinnen, er draußen, sodass sie das Schlafzimmer gleichzeitig erreichten. Seine Finger fanden die Kante des Fensterladens. Als sie vom Waschen zurückkam – sie war noch immer dabei, sich mit dem Zipfel eines Handtuchs das Gesicht abzutrocknen –, lag er bäuchlings auf ihrem Bett. Ein kurzes Atemholen, ihre Augen schossen zur Tür. Wortlos ließ sie das Handtuch fallen und glitt in seine Umarmung.
    »Du bist wahnsinnig«, sagte sie. »Was, wenn mein Vater dich findet? So was darfst du nicht machen! Du musst das Kennwort sagen.«
    »Tut mir leid.« Er presste sein Gesicht in ihren Bauch, sein Kinn ruhte auf duschfeuchtem Haar.
    »Na los.« Sie legte sich auf den Rücken und hob die Arme über ihren Kopf. Und dann, ein kleines Kichern. »Nicht das. Ich meine, sag das Wort.«
    Also hatte er ihr das Kennwort zugeflüstert, aber sie hörte es nicht, spürte dafür seinen Atem und wölbte leicht den Rücken, um ihm entgegenzukommen, legte ihm dabei die Hände auf die Schultern und drückte sie mit offenen Händen nach unten. Er liebte den gleichmäßigen Takt ihres Atems, das Einziehen und Loslassen, bis der Rhythmus einbrach, wie wenn ein Musiker eine Tonfolge verpatzt und plötzlich in die Tasten hämmert.
    Später, während er mit dem Handrücken ihre Formen nachzog und die neue Feuchtigkeit auf ihrer Haut spürte, fing er ihre Brustwarze zwischen Zeige- und Mittelfinger ein und hielt sie fest, wie man eine Zigarette halten würde.
    »Du wirst hierbleiben müssen«, sagte sie. »Du kannst jetzt nicht gehen. Es ist zu gefährlich.«
    »Ich weiß«, erwiderte er. Ohne zu wissen, ob sie von ihrem Vater oder dem Putsch sprach. Nach der Zeit im Studentenwohnheim hatte die Rückkehr in das jeweilige Elternhaus eine Einschränkung ihrer Liebesstunden bedeutet, und damit eine neue Vorfreude. Viele Male hatte er an den Laden geklopft, ihr privates Kennwort geflüstert; nie hatte er dort geschlafen. Geschlafen hatte er in jener Nacht auch nicht, hatte wach gelegen und das sich verändernde Licht

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