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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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seinen Zynismus nicht gut gefunden. »Hitler, Pol Pot. Komisch, nicht? Es scheinen immer nur böse Menschen zu sein, die sich einbilden, sie könnten die Welt verändern. Ich frage mich, woran das liegt.« Und Kai hatte geantwortet: »Weil das Irre sind.« Sie hatte ihm einen spitzen Ellbogen in die Rippen gestoßen. »Aber das tun sie wirklich, oder? Sie verändern die Welt.«
    An den folgenden drei Tagen ging Kai allein ins Krankenhaus, wo Ärzte und Pflegepersonal weiterhin zum Dienst erschienen und die Verletzten mit unbeteiligter Entschlossenheit behandelten. Das war ihr Job, ihr Leben. Damals war Kai glücklich.
    Die Erinnerungen kommen in unbewachten Augenblicken, wenn er nicht schlafen kann. In der Vergangenheit, auf dem Höhepunkt der ganzen Sache, hatte er Menschen versorgt, denen Gliedmaßen abgetrennt worden waren. Als er Jahre später mit einem schottischen Schmerzexperten zusammenarbeitete, bekam er es mit einigen dieser früheren Patienten wieder zu tun. Sie klagten über Schmerzen in den verlorenen Gliedmaßen, das leidende Gespenst einer abgehackten Hand oder eines Fußes. Es war ein Streich der Psyche, erklärte der Schotte: Die Nerven fuhren fort, zwischen dem Gehirn und dem Geisterglied Signale zu übermitteln. Die Schmerzempfindung ist real, ja, aber es ist eine Erinnerung an den Schmerz. Und wenn er aus Träumen von ihr erwacht, ist es bei ihm nicht das Gleiche? Die hohle Leere in seiner Brust, die angespannte Sehnsucht, die Einsamkeit, gegen die er jeden Morgen ankämpft, bis er sich wieder in die Arbeit stürzen und vergessen kann. Nicht Liebe. Etwas anderes, etwas, dessen Macht fortdauert. Nicht Liebe, sondern eine Erinnerung an die Liebe.

22
    Ein Tag verging. Dann noch einer. Die Wolken hingen in einer geschlossenen Decke über der Stadt, lediglich ihre Muster wechselten mit dem Wind. Es hatte den Anschein, als wären wir gefangen auf der dunklen Seite eines Spiegels. Wir konnten die Welt sehen, Leute, die durch den Regen liefen, Kinder, die in den Pfützen spielten, aber wir konnten sie nicht hören. Im Haus war es still. Ein, zwei von Julius’ Universitätskollegen riefen an, da sein Fehlen bei einer Konferenz aufgefallen war. Wir sagten ihnen, er habe in einer Familienangelegenheit verreisen müssen. Von Kekura keine Nachricht. Der Tanzmensch, ich erinnere mich, schaute vorbei. Irgendwie hatte er erfahren, was passiert war, und marschierte herein und warf, unter Berufung auf seine weitgestreuten Kontakte bei der Polizei, mit Hilfsangeboten um sich. Mir missfiel seine Vertraulichkeit, die Art, wie er dasaß, mit gespreizten Beinen, die Arme auf der Rückenlehne des Sessels ausgebreitet, und sich in Szene setzte. Und ich glaubte auch nicht an seine Behauptungen. Nahm die Polizei neuerdings Tanzunterricht? Aber Saffia klammerte sich an jeden Strohhalm. Ich hatte mittlerweile das immer stärkere Gefühl, dass eine Einmischung unsererseits zu nichts Gutem führen würde. Besser, die Sache auszusitzen. Außerdem kam der Bursche nach einigen Stunden zurück und hatte durch seine angeblichen Bemühungen erwartungsgemäß nicht das Geringste erreicht.
    Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fing Saffia an zu weinen.
    Ich setzte mich neben sie. Ich legte den Arm um sie. Weder leistete sie Widerstand, noch rückte sie von mir ab. Die Schluchzer kamen, trocken, unregelmäßig, und ließen ihre Schultern erzittern. Ihr Kopf ruhte auf meiner Schulter. Ihrem Haar entstieg ein schwüler, erdiger Duft. Eine Träne tropfte auf mein Hemd, und ich spürte, wie sie durch den Baumwollstoff sickerte und meine Haut berührte. Ich blieb so lange dort sitzen, wie es irgend ging, bis ich eine Veränderung bei ihr verspürte. Sie würde jeden Augenblick die Fassung wiedergewinnen, und dann würde ihr unsere körperliche Nähe vielleicht unangenehm sein. Ich stand auf.
    »Es ist bald vorbei. Es nimmt alles seinen geregelten Gang, bald wissen wir Bescheid.«
    Meine Worte brachen den Bann. Sie richtete sich auf, wischte sich die Augen ab und putzte sich die Nase.
    »Kann ich Ihnen etwas holen?«, sagte ich. »Sollen wir irgendwo etwas essen gehen?«
    »Nein, danke, Elias. Ich sollte in der Nähe des Telefons bleiben. Aber ich habe einen schrecklichen Durst.«
    Ich ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und griff nach einer Flasche Wasser, holte dann aber stattdessen eine Flasche Coca-Cola heraus, goss die Hälfte davon in ein Glas, dazu einen Schluck von Julius’ Whisky. Ich stellte das Glas vor

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