Lied aus der Vergangenheit
Monaten wieder da.«
Adrian starrt nach vorn und wischt sich den Mund ab. »Ja. Ich weiß nur nicht, ob ich dann noch hier sein werde.«
Sobald sie in der Wohnung sind, geht Adrian schnurstracks ins Badezimmer und Kai in die Küche. Kurz darauf hört Kai das Geräusch des Spülkastens, und Adrian kehrt ins Wohnzimmer zurück.
»Jesus, bin ich erschöpft! Apropos, ist das normal?«
»Erschöpft zu sein? Ja.«
»Nein, ich rede von meiner Pisse. Sie hat die Farbe von Orangenlimonade.«
Kai lacht. »Ich hab vergessen, dich vorzuwarnen.«
Das Telefon klingelt. Lisa. Kai hört die Gezwungenheit in Adrians Stimme. Er und Nenebah waren nie an den Punkt gelangt, den Punkt, an dem die Höflichkeit sich wieder durchsetzt: Sie hatten sich durchaus oft gestritten. Er bemerkt, dass Adrian kein Wort von seiner Krankheit sagt.
Jener Morgen, an dem Kai Nenebahs Haus verlassen hatte und wieder ins Krankenhaus gegangen war, war der erste gewesen. Es sollte eine ruhige Zeit folgen. Der Sturm sollte sie völlig unvorbereitet erwischen. Doch der kam erst zwei Jahre nach jenem Morgen. Damals war er sechsundzwanzig gewesen. Auf dem Weg zur Arbeit hatte er zum ersten Mal das Geräusch von Mörsergranaten gehört, das mit dem munteren Pfeifen über einem anfing und mit einer Explosion endete. Er war losgerannt und hatte das Krankenhaus im Chaos vorgefunden. Sein Herz pumpte noch vom Laufen, er empfand es als belebend. Die Armee hatte gemeutert und das Zentralgefängnis gestürmt, die Gefängnistore waren gewaltsam geöffnet worden. Die ersten Verletzten waren Gefangene gewesen. Größtenteils Verbrennungen, auch Rauchvergiftungen, denn die erste Welle von ausbrechenden Gefangenen hatte ihren Zellenblock in Brand gesteckt, ohne an das Schicksal der übrigen Insassen zu denken – oder sich vielleicht darum zu scheren. Nur die am schwersten Verletzten kamen ins Krankenhaus, während die anderen es vorzogen, die Chance zu ergreifen, die sich ihnen bot. Unter den Eingelieferten waren auch ein paar Gefängniswärter, die der Ansicht waren, sie sollten als Erste behandelt werden, und ein Teil des Personals war der gleichen Meinung. Kai war das egal gewesen. Er machte sich einfach an die Arbeit, einen Patienten nach dem anderen. Die Feuer brannten die ganze Nacht, die Plünderung der Stadt dauerte an. An dem Tag hatte er, zusätzlich zu den Verbrennungen, mehr Schusswunden behandelt, als er in seiner ganzen bisherigen Laufbahn auch nur gesehen hatte.
Am späten Nachmittag war er vor die Tür gegangen. Jemand bot ihm eine Zigarette an, und obwohl er nicht rauchte, steckte er sie sich, unangezündet, zwischen die Lippen. Gerüchte zuhauf. Ein, nein, zwei – mit fliehenden Politikern vollgestopfte – Hotels wurden belagert. Die Amerikaner waren im Anmarsch. Die Briten schickten ein Kanonenboot. Die Zentralbank war überfallen worden, auf den Straßen lag Geld verstreut. Im menschenleeren Aufenthaltsraum plärrte ein Radio: Der Sprecher der Putschisten gab in gebrochenem Englisch Erklärungen ab.
Als Kai das Gebäude das nächste Mal verließ, muss es um Mitternacht gewesen sein. Es war dunkel. Die letzten fünf Stunden hatte er beim Licht einer Campinglaterne gearbeitet. Er stand da und lauschte dem Geschützfeuer. Später sollte es ihn immer wieder verblüffen, was für ein harmloses Geräusch das in Wirklichkeit war, überhaupt nicht so wie die lauten Explosionen in Filmen. Es sollte eine Zeit kommen, da er imstande war, Marke und Modell einer Waffe anhand ihres Geräusches, anhand der Schusswunde, die sie verursachte, zu erkennen. Einstweilen stand er da und starrte in den Himmel, in der Nase den eisenhaltigen Geruch, der von den Flecken an seinem OP-Kittel hochstieg. Er war erschöpft und gleichzeitig restlos zufrieden. Er lächelte.
Dann fiel ihm Nenebah ein.
Es wird Abend. Kai faltet aus dem Gedächtnis Papier: Halbiert, hier eine Ecke, da eine Kante umgeschlagen, er zieht mit dem Fingernagel eine Falte nach. Möglichst schnell zu arbeiten ist mit Zweck der Übung. Seine Finger bewegen sich geschickt und ziehen schließlich die fertige Figur in Form. Ein Frosch. Er faltet ihn wieder auseinander, streicht die Falzstellen glatt und fängt noch einmal von vorn an. Diesmal fertigt er ein langhalsiges Kamel, anschließend einen Schwan. Zu Hause ist die Fensterbank des Zimmers, in dem Abass schläft, mit solchen Origami-Tieren gesäumt. Kai will gerade den Schwan rückgängig machen, als Adrian, nur in Shorts gekleidet, ins Zimmer kommt.
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