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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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auf der nackten Wand betrachtet, während das Morgengrauen die Gestalt neben ihm langsam hervorhob. In der Nacht hatte es heftig geregnet, das Muster des Regens hatte auf der Mauer gespielt; das Geräusch schlang sich um sie, wie sie in die Arme des anderen geschmiegt dalagen.
    Er war beizeiten hinausgeschlüpft, die Luft klamm von Tau und dem Atem der Schlafenden. Mittlerweile herrschte eine neue Ordnung.
    Kai erwacht aus Träumen von ihr. Von draußen kommt das Rauschen des Regens. Eine Zeit lang erklärt er es für Teil des Traums, es ist ja doch viel zu früh im Jahr für Regen! Das Wasser dröhnt auf dem Dach. Kai steht auf und durchquert das Wohnzimmer, um die Musik lauter zu drehen. Jimmy Cliff, Wonderful World, Beautiful People . Er geht an die Tür und öffnet sie, betrachtet den Regen, spürt, wie das Wasser aufspritzt und seine Füße berührt, seine Knöchel. Nach und nach saugen der Überschwang der Musik, das beschwichtigende Geräusch des Regens die Erinnerung an den Traum in sich auf.
    Am fünften Tag öffnet Kai die Schlafzimmertür und findet Adrian wach und halb angezogen vor. Bei Kais Eintreten sackt er aufs Bett, sichtlich erschöpft von der Anstrengung, sich die Hose zuzuknöpfen. Zwischen den Rippen sind leichte Schatten zu sehen, Pfade von violetten Venen schlängeln sich unter durchscheinender Haut.
    »Was glaubst du eigentlich, wo du hingehst?«
    »Ich muss in die Anstalt.« Adrian kämpft mit der Schnalle seines Gürtels.
    Kai schüttelt den Kopf. »Mann, du kannst kaum stehen.«
    »Nur zwei Stunden. Das ist alles. Ich muss sie sehen.«
    »Wen?«
    »Meine Patientin.«
    Kai sieht sich Adrians Anstrengungen für einen Moment an. Dann geht er zum Schrank, holt ein gestreiftes Hemd heraus, reicht es Adrian und schaut ihm zu, wie er erst einen, dann den anderen Arm in die Ärmel zwängt, seine Stirn schweißblank. Kai tritt ans Bett, um ihm beim Zuknöpfen zu helfen.
    »Ich fahr dich«, sagt er.
    Kai erkennt Ileana an der Stimme, vom Telefon her.
    Sie sieht Adrian an. »Mein Gott, Sie sehen ja grauenhaft aus.«
    »Keine Sorge, ich hab meinen Arzt dabei.« Adrian lächelt blass und deutet mit einer Armbewegung auf Kai, eine schlaffe Geste, wie von einer kaum beseelten Flickenpuppe. »Kai, Ileana. Ileana, Kai.«
    Ileana sieht Kai an und nickt knapp. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich augenblicklich wieder auf Adrian. »Hören Sie, es tut mir ehrlich leid«, sagt sie.
    »Es ist Malaria. Jeder kriegt sie. Habe ich jedenfalls gehört.«
    »Nein. Ich meine, es tut mir leid, Adrian. Agnes ist gegangen. Es tut mir furchtbar leid. Ich hätte anrufen sollen, aber Sie waren ja krank.«
    Während der Rückfahrt fällt kein einziges Wort. Adrian starrt, den Kopf an die Scheibe gelehnt, blind aus dem Fenster. Kai kann die Betroffenheit, die der Verlust eines Patienten – wodurch auch immer bedingt – auslöst, vollauf verstehen. Jedes Mal, wenn man einen neuen Patienten bekommt, macht man sich mit vollkommener Überzeugung an die Arbeit, er kennt keinen einzigen Chirurgen, bei dem das anders wäre. Es ist ein Glaube an die Möglichkeit des Lebens, ein fast spiritueller Glaube, neben dem alle wissenschaftliche Erkenntnis, alle medizinische Gelehrsamkeit fast bedeutungslos erscheint. Keine Informationen über die tatsächlichen Chancen des Patienten können ihn anfechten. Man packt eine Chance von eins zu hundert mit dem gleichen Elan an wie eine von eins zu zwei oder von eins zu eins. Während der schlimmsten Tage des Krieges gingen die Ärzte die Korridore ab und wählten die verletzten Männer und Frauen aus, die vielleicht eine Chance hatten, und ließen die anderen sterben. Es hatte ihm weniger Gewissenskonflikte bereitet, das zu tun, als er gedacht hätte. Doch sobald jemand ihr Patient geworden war, sobald das Team dieses gemeinsame Ziel in Angriff genommen hatte, traf ein etwaiger Verlust sie alle schwer.
    Trotz allem ist es Adrian, der als Erster spricht und fragt, ob sich die Klimaanlage nicht ein bisschen herunterdrehen lasse. Kai streckt die Hand aus und legt den Handrücken kurz an Kais Stirn.
    »Dein Fieber ist schon wieder gestiegen. Du musst dich abkühlen.« Er lehnt sich nach hinten und tastet auf dem Rücksitz herum, bis er eine Plastikflasche Wasser findet. Er reicht sie Adrian. Kai sieht, wie er ein paar Schlucke nimmt und dabei gegen das Gerumpel des Wagens auf der unebenen Fahrbahn ankämpft. Er verlangsamt die Fahrt und sagt: »Nach dem, was du mir erzählt hast, ist sie in ein paar

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