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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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machen sie einen Umweg über eine kleinere Stadt, um zu tanken. Es gibt eine Schlange, die Zapfsäule ist handbetrieben und langsam. Während Kai wartet, gestattet Adrian dem Jungen, ihn zu einem Stand zu führen, an dem Kassetten verkauft werden und wo aus vier Lautsprechern Musik so laut ertönt, dass sie völlig verzerrt klingt. Ungerührt sieht der Junge Kassetten durch. Adrian entfernt sich ein wenig von dem Lärm, aber so, dass er Abass weiter im Auge behalten kann. Ringsum sind Stände mit Turnschuhen, Ersatzkanistern aus Kunststoff, Hüten. Am jenseitigen Ende des Marktplatzes hält ein Taxi, der Fahrer nimmt seinen Fahrpreis entgegen und öffnet den Kofferraum, dem drei schöne dunkelbraune Ziegen entsteigen. Der Boden ist staubig und mit Papier übersät, wie ein Rummelplatz am Ende des Abends.
    Er erinnert sich an seinen Vater im Pflegeheim, als es mit ihm langsam zu Ende ging. Adrian hatte Kate mitgenommen, und unterwegs hatten sie an einer Kirmes gehalten. Die Lichter, die kühle Oktoberluft, der Lärm. Dagegen die Atmosphäre im Pflegeheim: überhitzt, statisch, gedämpft. Sie waren eine Stunde geblieben, während der es Adrian nicht gelungen war, zweifelsfrei zu erkennen, ob sein Vater sich auch nur an eines der Ereignisse erinnerte, von denen Adrian sprach – oder auch nur wusste, wer er war. Am Ende des Besuches hatte er sich an der Tür umgedreht, um sich zu verabschieden, und der Alte hatte die Hand gehoben, die Finger geschlossen und einen zitternden Daumen in die Höhe gereckt. Im ersten Moment hatte Adrian nicht verstanden. Und dann hatte er die Geste wiedererkannt. Das war früher ihr privater Scherz gewesen. Es gab ein Land irgendwo auf der Welt, wo der hochgereckte Daumen kein Zeichen für Lob oder Zustimmung war, sondern die lokale Entsprechung des ausgestreckten Mittelfingers. Wo war das? In Thailand? Im Iran? Er hatte das irgendwo gelesen und seinem Vater erzählt. Später hatte sein Vater die Geste – mit Nachdruck – hinter dem Rücken eines hochnäsigen Kellners vollführt. Damals hatte die Krankheit schon angefangen, Zellen aus seinem Gehirn zu fressen, auch wenn das noch keiner von ihnen gewusst hatte. Adrian hatte in seine Cola hineingekichert
    Vom Standbesitzer beäugt, trödelt Abass bei den Kassetten herum, wie das alle kleinen Jungen ohne eigenes Geld tun. Adrian beschließt, noch ein paar Minuten vergehen zu lassen, bevor er anbietet, ihm eine zu kaufen. Bis dahin lässt er den Blick über den Marktplatz schweifen. Er hat keine rechte Ahnung, wo sie eigentlich sind.
    Fünfzig Meter entfernt verlassen eine Frau und ein junges Mädchen einen der Stände und wenden sich in seine Richtung. Die Frau ist winzig, nicht größer als das Mädchen. Sie trägt ein Stück hellen Stoff, der um ihren Körper gewickelt und über ihren Kopf gezogen ist. Das Mädchen trägt eine Baumwollbluse und einen Jeansrock. Adrian betrachtet die beiden müßig. Die Hitze, die Anstrengung des Schwimmens, das Bier, die gerade erst überwundene Krankheit haben ihn langsamer gemacht. Erst als sie zwanzig Meter von ihm entfernt sind, beginnt die Erkenntnis wie kaltes Öl durch sein Gehirn zu sickern. Die Frau mit dem Mädchen. Die Frau mit dem Tuch über dem Kopf, das ihr Gesicht einrahmt. Es ist Agnes.
    Er macht auf der Stelle kehrt und geht zu Abass zurück. »Sag deinem Onkel, dass ich zwei Minuten weg bin.« Er hält zwei Finger hoch. Abass starrt ihn, die Hände um eine Kassette geschlossen, verständnislos an. »Zwei Minuten.« Adrian wendet sich an den Standbesitzer, der mit einer langsamen Neigung des Kopfes seine Einwilligung kundtut. Zufrieden geht Adrian mit schnellem Schritt los. Er sieht die zwei Frauen in eine der Straßen einbiegen, die vom Platz wegführen. Er verlangsamt seinen Gang und folgt ihnen. Vom Ende der Straße aus beobachtet er, wie sie die Stufen zu einem Haus hinaufsteigen. Das Haus sieht genauso aus wie alle anderen in der Straße: quadratisch, eingeschossig, mit einer tiefen Veranda nach vorne, einer Betonbalustrade, zu beiden Seiten Stufen, die hinaufführen.
    Auf der Veranda des Hauses, das Agnes betreten hat, sitzt ein Mann, der lediglich eine Baumwollhose trägt, auf einem alten Autositz.
    »Hallo«, sagt Adrian.
    »Hallo«, antwortet der Mann. »Was kann ich für Sie tun?« Sein Englisch ist ausgezeichnet. Er zeigt keinerlei Überraschung wegen Adrians Erscheinen.
    Adrian nennt seinen Namen, fragt, ob die Frau, die gerade hineingegangen ist, Agnes heißt.
    »Das ist Agnes,

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