Lied aus der Vergangenheit
Erdrutschen. Auf der anderen Talseite ergießt sich Wasser von hoch oben am Hang auf eine Schräge von dunklem gewachsenem Fels.
»Da!«, schreit Abass, zwei Fingerbreit von Adrians Ohr entfernt. »Ein Wasserfall!«
»Wasserfall nennst du das?«, sagt Kai. »Warte ab, bis wir da sind, wo wir hinwollen.«
»Wie lang brauchen wir bis dahin?«
»Ungefähr drei Stunden.«
»Drei Stunden?!« Er wirft sich in den Sitz zurück.
»Keine Sorge. Es lohnt sich. Wenn wir erst mal auf der Hauptstraße sind, geht es auch schneller. Sollen wir in Waterloo etwas Kassavabrot und Fisch kaufen?«
»Ja, bitte.«
Eine Brücke, nicht breiter als das Auto. Die Geländer sind abgefallen, sodass die Seiten ungeschützt sind. Ein entgegenkommendes Fahrzeug hält auf der anderen Seite und überlässt ihnen die Vorfahrt. Beim Überqueren hält Adrian den Atem an. Sie haben jetzt einen großen Bogen um die Stadt gemacht. Sie liegt südlich von ihnen, zwischen dem Heck des Wagens und dem Atlantik. Genau nördlich von ihnen, dreihundert Kilometer Luftlinie, liegt Guinea. Jenseits von Guinea: Mali, Mauretanien, dann Sand, die Sahara. Sie kommen an einer Siedlung aus eingeschossigen Häusern vorbei, dann offenes Buschland, hier und da rostige Maschinen, und erreichen die Hauptverkehrsstraße. Hier schaltet das Tempo plötzlich ein paar Gänge höher. Fahrzeuge sausen vorüber, scheren aus, überholen, halten manchmal abrupt, um einen Passagier aussteigen zu lassen oder einen anderen an Bord zu nehmen. Kai schweigt, ganz auf die Straße konzentriert.
Hinter der Nase des Hügels wird die Fahrbahn, von einem Marktplatz bedrängt, plötzlich enger. Kai fährt an den Straßenrand und öffnet das Fenster. »Ssssss!« Er hebt die Hand und schnippt mit den Fingern. Eine Frau kommt näher und nimmt ein Tablett vom Kopf herunter. Sie zählt sechs Fische ab, golden und geschwärzt, ein Dutzend Fladenbrote, teilt Fische und Brote in drei Portionen auf und löffelt über jede eine dunkelrote Sauce. Kai reicht Adrian eine Portion und Abass eine. Adrian isst mit den Fingern. Der Fisch ist rauchig und trocken, das Kassavabrot fad und salzlos – und erinnert ihn an ungesäuertes Brot. Die Sauce dagegen ist gehaltvoll, ölig und würzig. Kai lässt den Motor an und fährt los, isst mit einer Hand aus dem Schoß und lenkt mit der anderen. Die Sauce färbt Adrians Fingerspitzen safranrot.
Hinauf in die Hügel, Bäume beiderseits bis dicht an den Straßenrand. Jeglicher Verkehr hat aufgehört, die Straße ist still. Die Landschaft wird eben. Reisfelder, Gemüsefelder und Baumplantagen weichen nach und nach einer gleichförmigen Wand von Elefantengras. Gelegentlich ein liegen gebliebener Laster, aber sonst nicht viel. Die Abstände zwischen den Siedlungen dehnen sich, scheinbar in einem zeitlosen Augenblick erstarrte Kinder schauen dem vorbeifahrenden Wagen nach. Einmal kommen sie, wie es aussieht, an einem verlassenen Bergwerk vorbei. Abass kurbelt das Fenster herunter und streckt den Kopf hinaus, öffnet und schließt den Mund, was ein schnalzendes Geräusch erzeugt, und brüllt seinen Namen in den Wind. Kai schiebt eine Kassette in den Kassettenrekorder, die Lautsprecher rauschen, ein Trommelschlag und dann noch einer.
Well they tell me of a pie up in the sky,
Waiting for me when I die.
But between the day you’re born and when you die,
They never seem to even hear your cry.
Abass zieht den Kopf wieder herein, stellt sich, die Hände auf den Kopfstützen, aufrecht zwischen die Sitze und singt aus voller Kehle mit: The harder they come, the harder they’ll fall, one and all!
Kai trommelt auf dem Lenkrad. Adrian erinnert sich, dass Kai während seiner Krankheit abends immer diese Kassette abgespielt hat. Das nächste Lied beginnt. Abass scheint alle Texte auswendig zu wissen. Kai lehnt sich herüber und öffnet das Handschuhfach. »Such was aus.«
Adrian kramt in dem Fach: Kulis, Latexhandschuhe, Streichhölzer, Kassetten. Kai biegt währenddessen um eine Kurve, macht einen plötzlichen Schlenker und bremst. Im Rückspiegel sieht Adrian einen Minibus, der, die Räder nach oben, im Straßengraben liegt. Mehrere Leute stehen auf der Fahrbahn. Vor ihnen eine Reihe von liegenden Gestalten, mit Tüchern bedeckt.
Kai hat die Tür schon aufgestoßen. »Wartet hier einen Moment.« Ohne eine Antwort abzuwarten, steigt er aus und knallt die Tür hinter sich zu.
»Warte auf mich!« Abass fummelt am Türgriff herum. »Ich komm mit!« Aber Kai ist schon zwanzig
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