Lied aus der Vergangenheit
Meter weiter.
»Weißt du, ich glaube, wir sollten lieber hier warten«, sagt Adrian. »Wie Kai gesagt hat.«
Abass’ Kopf wirbelt herum, er zerrt noch immer am Türgriff. »Warum?«
»Na ja, ich glaube, die Leute brauchen vielleicht einen Arzt. Uns können sie nicht gebrauchen, keinen von uns. Bleib du bei mir.«
Abass studiert kurz Adrians Gesicht, während er seine Antwort abwägt. Adrian lächelt. Abass entspannt sich und lässt den Türgriff los. »Also gut«, sagt er. Über den Kopf des Jungen hinweg kann Adrian sehen, wie Kai bei jeder einzelnen verhüllten Gestalt stehen bleibt und in die Hocke geht. Es folgt ein kurzes Gespräch mit den Leuten am Straßenrand. Kai kommt zum Wagen zurück, steigt ein und dreht die Musik leiser, bevor sie losfahren.
»Was ist mit dem poda poda passiert? Ist er wo gegengekracht?«, fragt Abass.
»Ja«, sagt Kai.
»Was ist mit den Leuten passiert?«
»Einige von ihnen sind tot. Die Verletzten sind schon weggefahren worden. Es ist schon eine Weile her, dass der Unfall passiert ist. Sie warten darauf, dass jemand die Leichen abholt.«
»Ich will die toten Leute sehen!«, brüllt Abass.
»Tja, aber die wollen dich nicht sehen«, erwidert Kai gleichmütig.
Abass rutscht auf dem Rücksitz herum und starrt durch das Heckfenster auf das Wrack, das in der Ferne zurückweicht. Eine Zeit lang schweigen sie. Nach ein paar Minuten dreht Kai die Musik wieder lauter. Er hat die Eindrücke hinter sich gelassen. Es ist ihr freier Tag. Auch Abass summt schon bald wieder mit und zeigt durchs Fenster. Adrian versucht, das Bild der Überlebenden, die, die sperrigen länglichen Gebilde zu ihren Füßen, wie ein Ensemble von Kontrabassspielern dastanden und warteten, aus seinem Gedächtnis zu tilgen.
Eine halbe Stunde später biegt Kai auf eine unbefestigte Straße ein. Sie passieren eine Eisenbrücke, hoch über einem trägen breiten Fluss, und durchqueren eine Stadt. Von dort fahren sie weiter, eine endlose schnurgerade Piste entlang, in östlicher Richtung. Hier ist die Landschaft wieder anders, sogar noch weniger kultiviert als bisher. Hier und da stehen schwarze Felsbrocken herum, die das Sonnenlicht in sich aufzusaugen scheinen, so grellschwarz im blendenden Tag, dass es Adrian schwerfällt, sie zu fixieren. Eine kurze Hügelkette ragt aus der flachen Landschaft auf und wirft Schatten auf die umliegende Erde.
Sie halten, um sich die Beine zu vertreten, die Männer brechen in unterschiedliche Richtungen auf, um zu urinieren – Abass folgt Kai. Die Luft ist süß und schwer. Adrians Kleidung und Haut sind mit einer Staubschicht bedeckt. Er schüttelt den Kopf, und Staub fällt aus seinem kurz geschorenen Haar. Der Boden zu seinen Füßen ist rissig, und als er seine Blase entleert, scheucht die Flüssigkeit einen kleinen Schwall Staub und einen weißen Schmetterling auf. Kai holt aus der Kühlbox im Kofferraum kalte Getränke, und die drei trinken im Stehen. Ein Mann taucht aus dem Nichts auf und wechselt mit Kai Grüße. Sein Blick huscht interessiert über Adrian, auch wenn seine Worte an Kai gerichtet sind. Nach dem, was Adrian aus dem Nicken, den Gesten erschließen kann, fragt er, wohin sie fahren. Kai bietet ihm eine leere Getränkeflasche an, und der Mann nimmt sie mit würdevollem Ernst an. Immer wieder gleiten seine Augen zu Adrian zurück. Nach einiger Zeit zieht er weiter. Wohin? Woher? Adrian kann es sich beim besten Willen nicht denken. Denn die Straße zieht sich nach beiden Seiten meilenweit hin.
Es ist ein Uhr, als sie die Straße verlassen und in einen abschüssigen und zunehmend engeren und holprigeren Weg einbiegen. Der Weg ist so überwachsen, dass nur wenig Licht hereindringt. Nach zehn Minuten fährt er an den Rand und zieht die Handbremse an. »Von hier ab laufen wir.« Also sammeln sie ihre Sachen zusammen und brechen auf, Kai an der Spitze, die Kühlbox aus dem Kofferraum auf der Schulter.
»Bin ich schon mal hier gewesen?«, fragt Abass.
»Nein, als wir herkamen, warst du noch nicht geboren.«
»Warum hast du mich noch nie hergebracht?«
»Es war nie möglich«, sagt Kai und rückt die Last der Kühlbox zurecht, Adrians Angebot zu helfen mit einer Handbewegung ausschlagend. »In dieser Gegend gab es viele Kämpfe.« Er wendet sich zu Adrian und deutet auf einen unbestimmten Punkt hoch oben in den fernen Bäumen vor ihnen. »Da oben gibt’s einen Staudamm, ein großes Wasserkraftwerk.«
»Sehen wir uns den Staudamm an?«, fragt Abass.
»Ein anderes
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