Lied aus der Vergangenheit
ja.« Der Mann erhebt sich und setzt sich auf die Balustrade – um besser zu hören, wie es scheint, nur dass er jetzt direkt über Adrian ragt. Er hat ein schönes ernstes Gesicht mit gleichmäßigen weißen Zähnen und wuchtigen schrägen Wangenknochen. Sein Haar ist zu kurzen Dreadlocks geflochten. »Was haben Sie mit ihr zu tun?«
Adrian zögert, unsicher, was er darauf antworten soll. Er möchte nicht unkooperativ erscheinen, andererseits gibt’s das Problem mit der ärztlichen Schweigepflicht.
»Ich bin Arzt«, sagt er.
»Agnes ist nicht krank.« Eine Feststellung.
»Nicht direkt. Ich habe sie vor einiger Zeit behandelt. Es geht mir nur um eine Nachuntersuchung. Ich habe es nicht geschafft, sie vor ihrer Entlassung noch einmal zu sprechen.«
Der Mann beobachtet ihn aufmerksam, die Augen weichen keinen Augenblick von Adrians Gesicht; sein Ausdruck ist im schwindenden Licht nicht zu erkennen. Adrian sieht sich durch die Augen des Mannes: einen unbekannten Weißen von der Straße. Vielleicht hätte er Agnes nicht nach Haus folgen sollen, sie hat sich selbst entlassen. Er möchte nur mit ihr reden. »Es wird nur fünf Minuten dauern.«
Der Mann gleitet von der Balustrade herunter. »Sie sind Arzt, sagen Sie?« Er sieht nach wie vor Adrian an, seine Rede ist gemessen und bedacht, seine ganze Art unaufgeregt.
»Das ist richtig.«
»Einen Moment. Ich gehe sie holen.« Er geht zur Tür, tritt ins Haus und zieht die Tür hinter sich zu. Adrian wartet auf der Straße. Es gibt nur wenige Passanten, der Tag neigt sich dem Ende zu. Bald wird es dunkel sein. Adrian hofft, dass der junge Mann seine Worte korrekt ausrichtet; irgendetwas lässt ihn zögern, ihm rückhaltlos zu vertrauen, etwas an seiner Art: eher neugierig auf Adrian als um Agnes besorgt. Als der Mann auch nach mehreren Minuten nicht wieder erscheint, steigt Adrian versuchsweise ein, zwei Stufen hinauf. Wenn Agnes ihn sieht, wird sie ihn wiedererkennen, da ist er sich sicher.
Hinter ihm eine Frauenstimme: »Guten Abend.«
Eine junge Frau. Ein mit einem Tuch bedeckter runder flacher Korb, den sie auf dem Kopf balanciert, diktiert ihr die aufrechte Haltung, den sanften Rhythmus ihrer Schritte. Sie geht an Adrian vorbei und weiter die Treppe hinauf. »Kann ich Ihnen helfen?«
Adrian erklärt noch einmal. Er ist Arzt, möchte Agnes sprechen, er hat sie zufällig auf dem Platz gesehen. Er möchte niemanden wegen Agnes’ Gesundheitszustand beunruhigen, er möchte ihr nur helfen, so gut er kann.
»Agnes ist meine Mutter.«
Naasu. Agnes hat ihm ja erzählt, dass sie mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn zusammenlebt. Das war vermutlich er.
Die junge Frau, die Naasu sein muss, hört zu, ohne ihn zu unterbrechen. »Ich wusste nicht, dass sie Sie aufgesucht hat. Aber wenn Sie ihr helfen könnten, das wäre gut. Ich gehe ins Haus und hole sie.«
Adrian verschweigt der jungen Frau, dass er schon mit ihrem Mann gesprochen hat. Ihr liegt offensichtlich das Wohl der Mutter am Herzen.
Sie stellt den Korb auf dem Boden ab. »Bitte warten Sie hier. Ich bringe sie hier zu Ihnen raus.«
Jetzt ist Adrian zuversichtlich, sein Kopf klar. Er weiß, wo sie wohnt. Er würde die Nachbeobachtung durchführen können, auch wenn das bedeutete, etwa ein Mal pro Woche hierher zu fahren. Er könnte viel erreichen, besonders mit der Unterstützung der Tochter. Das würde viel verändern. Eine Vertrauensperson. Vielleicht könnten sie der Sache wirklich auf den Grund gehen. Wenn er das schafft, besteht eine Chance. Alles Übrige wird sich ergeben.
Die Tür geht auf, und die Tochter erscheint, von Agnes begleitet. Sie hat das Tuch, mit dem ihr Haar bedeckt war, abgestreift. Sie trägt ein langes Batikkleid aus Baumwolle und Pantoffeln. Hinter den zwei Frauen kommt auch der Schwiegersohn heraus. Er setzt sich auf die Balustrade rechts hinter Adrian, ihm zugleich nah und außerhalb seines Gesichtsfeldes. Adrian versucht, sich vom Verhalten des Mannes nicht verunsichern zu lassen. Alles, was jetzt zählt, ist Agnes.
»Agnes.« Er lächelt. »Ich bin sehr froh, Sie zu sehen. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich zu Ihnen nach Haus gekommen bin. Ich habe Sie erst vorhin auf dem Markt gesehen.«
Agnes kommt nicht näher, lächelt nicht, sondern steht einfach mit vor dem Bauch verschränkten Händen da.
Adrian redet weiter. »Es tut mir leid, Agnes, ich war krank, als Sie entlassen wurden. Ich hatte Malaria.« Und dann: »Ich möchte, dass Sie zurückkommen und
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