Lied aus der Vergangenheit
Diese Dinge blieben.
Eine einzige Tankstelle in der Stadt mit Benzin. Autos, Motorräder, Fußgänger mit Ersatzkanistern, eine lange Schlange – trotzdem war Kai gut gelaunt. Er zählte die Scheine ab und gab sie dem Tankwart. Anschließend hielt er die Hände vor sich und spreizte die Finger. Kein Zittern. Gut. Er sah sich nach Abass und Adrian um. Der Fahrer des Wagens hinter ihm hupte und machte eine träge scheuchende Handbewegung. Also setzte sich Kai ans Lenkrad, ließ den Motor an und fuhr aus der Tankstelle hinaus. Er parkte und sah sich wieder um. Ah, da war Abass. Der Junge stand vor einer Bude und befingerte Musikkassetten mit der Ehrfurcht eines Archäologen, der ein antikes Gefäß berührt, das er anschließend in die Erde wird zurücklegen müssen. Adrian war nicht zu sehen. Kai stieg aus dem Wagen und ging zu dem Stand, wo der Besitzer, in weißer Dschellaba und Scheitelkappe, ein Bein über das andere geschlagen, wie ein Storch auf seinem Klappstuhl hockte.
»Hey, kleiner Mann.« Doch vom Lärm der Musik betäubt, hörte Abass ihn nicht. Kai legte die Hände flach auf den Kopf des Jungen, Abass versuchte, sich umzudrehen, Kai erhöhte den Druck und hielt ihn fest. Abass kicherte und wand sich.
Der Standbesitzer schloss sich mit einem öligen Lachen an. »Ja, Sir. Ihr Sohn ist bei mir in sicheren Händen gewesen.«
Kai nickte ihm knapp zu und wartete darauf, dass Abass den Standbesitzer korrigierte, ihm sagte, dass Kai sein Onkel war. Kinder nahmen so was genau. Doch Abass sagte nichts. Kai sah auf Abass, auf dessen gesenkten Kopf, hinunter. Das Muster seiner Haare, saubere vollkommene konzentrische Kreise, die in der Mitte seines Scheitels in einem einzelnen Haar endeten. Der eingerollte Rand seiner Ohrmuscheln. Die makellose Haut. Er fragte sich, ob Abass noch irgendeine Erinnerung an seinen Vater hatte. Er hatte nie danach gefragt. Und als er an dem Vormittag die Leichen am Straßenrand gesehen hatte, hatte Abass lediglich die morbide Neugier eines Kindes gezeigt.
»Schau!« Abass hielt Kai die Kassettenschachtel zur Begutachtung hin.
»Die möchtest du haben?«
Abass nickte heftig.
Der Händler sah von der Seite zu.
»Wie viel?«, fragte Kai ihn.
»Fünftausend«, erwiderte der Mann.
Kai holte die Geldscheine aus der Tasche.
»Wie wär’s mit dieser?« Der Händler hielt eine zweite Kassette in die Höhe. Kai spürte Abass’ Augen auf sich.
»Nein, danke. Nur die eine«, sagte Kai, dann zu Abass: »Wo ist Adrian?«
»Er kommt bald zurück. Er hat gesagt, ich soll warten.«
»Wie lang ist das her?«
»Ich weiß nicht«, sagte Abass achselzuckend, während er seine Neuerwerbung inspizierte. »Nicht sehr lang, glaube ich.« Dann, mit größerem Nachdruck: »So, eine Minute , vielleicht.«
»Bestimmt schon zwanzig Minuten«, sagte der Händler, als er das Geld entgegennahm.
Jetzt sah Kai den Mann genauer an. »Hat er gesagt, wo er hin wollte?«
»Nein«, sagte Abass lebhaft. »Er hat nichts gesagt, nur dass ich hierbleiben soll.«
Der Händler antwortete nicht direkt, sondern deutete mit dem Kinn, während er die Scheine in seinen Geldgürtel steckte. »Die Straße dort. Da ist er langgegangen.«
»Danke. Komm.« Er griff nach Abass’ Hand. »Gehen wir Adrian suchen.« Er ließ Abass’ Hand wieder los und sah dem Jungen nach, der, mit den Armen rudernd, Staub aufwirbelnd, vorauslief.
Auf der Straße, die der Standbesitzer angezeigt hatte, keine Spur von Adrian. Die Straße war menschenleer, der Markt reichte nicht über den Platz hinaus. Der Himmel wurde immer dunkler. Die Fensterläden der Häuser waren geschlossen, die Bewohner größtenteils auf den Hinterhöfen, um die Küchenfeuer versammelt. Abass machte ein Spiel daraus, spähte in jede Gasse und rief Adrians Namen, um dann weiterzurennen. Als er Abass’ Schrei hörte, lief Kai los. Er erreichte die Querstraße und bog um die Ecke, sein Herz raste.
Im Halbdunkel sah er Abass, von ihm abgewandt, mitten auf der Straße stehen und, die Arme schlaff an seinen Seiten, nach vorn starren. Vor dem Jungen lag ein Mann auf dem Boden.
Sie brauchten zehn Minuten, um den Wagen zu erreichen. Kai schlang sich einen von Adrians Armen um den Nacken und half ihm auf die Füße, nachdem er mit kundigen Fingern seine Rippen abgetastet und sich vergewissert hatte, dass nichts gebrochen war. Abass rannte voraus, um die Autotür zu öffnen, damit sich Adrian auf die Rückbank legen könnte, aber Adrian lehnte es ab, stieg vorsichtig
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