Lied aus der Vergangenheit
enthielt sie nicht mehr als Daten zu meinem Beschäftigungsverhältnis und meiner Sozialversicherung, was er sich alles ohne Schwierigkeiten hätte beschaffen können. Aber den Titel des Aufsatzes – wie hatte Johnson den in Erfahrung bringen können? Wer hatte ihm davon berichtet? Ich rief mich zur Ordnung. Ich fing schon an, wie Johnson zu denken. Der Aufsatz war nicht der Rede wert gewesen – eine bedeutungslose Übung in akademischem Fleiß. Vielleicht wurde er in meinen Personalunterlagen erwähnt. Und doch war er ein unveröffentlichter Text. Wie konnte er solche Beachtung verdient haben?
Ich dachte auch über Johnson nach, seine einstudierte Begriffsstutzigkeit, die Unerbittlichkeit seines Blicks und seine seltsamen Altmännerhände. Winzig, schwarz und runzlig, diese forschenden Fingerspitzen. Äffchenhände. Spitzfindige, Nissen zupfende Hände. Was wollte er eigentlich? Ich wusste es nicht. Andernfalls hätte ich es ihm vielleicht gegeben.
Ich wollte eine Zigarette. Die tröstliche Tätigkeit, anzustecken und zu inhalieren. Ich hatte Angst. Bislang hatte mir niemand wehgetan, aber nach dem, was man hörte, passierten derlei Dinge – mit Aktivisten, Unruhestiftern. Und war es nicht genau das, wozu Johnson mich unbedingt abstempeln zu wollen schien?
Wie schnell man in solchen Situationen jeden Trost ergreift, der sich nur bietet! An der Wand erschien ein Rechteckchen Sonne vom winzigen Fenster. Ich verrückte den Stuhl, zog mein Jackett aus und setzte mich ins Licht. Ich habe von jeher ein ausgeprägtes Bewusstsein meiner Sterblichkeit gehabt. Ich hatte keine Frau, keine Kinder. Ich trauerte nichts nach, ich war nicht in weinerlicher Stimmung. Ich sage einfach, dass ich ein ausgeprägtes Bewusstsein für meine Sterblichkeit hatte. Ich hatte nie diese Furchtlosigkeit besessen, die man so oft bei sehr jungen Menschen antrifft – bei meinem Bruder etwa, vor seiner Krankheit. Bei Julius. Julius . In was hatte er mich nur hineingezogen?
In dem Moment, während der vergangenen Nacht, als ich mich von außen gesehen hatte – nicht mich selbst, den leeren Raum, den ich einnahm –, hatte ich meine Grenzen erkannt. Ich hatte erkannt, dass ich kein Held war.
Ich muss irgendwann eingeschlafen sein. Ich wachte auf dem harten Fußboden auf, den Abdruck des körnigen Zements an meiner Wange. Mein ganzer Körper schmerzte, Hüfte und Schulter fühlten sich wund an. Einen Moment lang wusste ich nicht, wo ich war.
Wer hat noch nicht einen dieser entsetzlichen Träume gehabt, in denen ein vergessenes Verbrechen ans Licht kommt, irgendeine abscheuliche Tat, für die man sich verantwortlich weiß, weil alle Beweise im eigenen Herzen vorliegen, und an die man sich dennoch nicht erinnern kann? Man wacht in seinem Bett auf, von Erleichterung überspült. An dem Morgen, als ich auf dem Boden der Zelle zusammengerollt aufwachte, wartete ich während der ein, zwei Augenblicke, die ich brauchte, um mich zu erinnern, wo ich war, vergeblich auf die erlösende Erkenntnis, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Ich richtete mich auf. Irgendwo da draußen gingen Menschen ihren Angelegenheiten nach, meine Kollegen, meine Hauswirtin, Saffia. An Saffia hatte ich bisher so gut wie gar nicht gedacht. Ich fragte mich, was sie wohl gerade machte, ob sie den Grund für mein Fernbleiben erraten hatte.
Eine Wache kam mich holen, genau wie es am Vortag geschehen war. Ich wurde in Johnsons Büro geführt. Er stand von mir abgewandt und studierte die Pinnwand hinter seinem Schreibtisch. Ich hatte versucht, mich für seine nächste Breitseite von Fragen zu wappnen, aber die Wahrheit ist, ich war am Ende. Als er sich umdrehte und ich sah, dass es nicht Johnson, sondern der Dekan war, übermannte mich die Erleichterung. Ich glaube, nur die forsche Art des Dekans hielt mich davon ab, in Tränen auszubrechen. Er ließ kein Wort über meine Erscheinung fallen, aber sein Blick ruhte auffällig lange auf mir. Zweifellos weil er es in Fragen der persönlichen Hygiene sehr genau nahm, sah er leicht angewidert aus. Er setzte sich auf Johnsons Stuhl; die Schreibtischfläche vor ihm war von jeglichen Papieren freigeräumt worden. Meine Knie gaben leicht nach, und ich ließ mich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen.
»Ich habe mit Mr Johnson gesprochen. Er hat mir die Situation in groben Zügen erklärt. Ich habe ihm gesagt, dass Sie eins der zuverlässigsten Mitglieder unserer Fakultät sind. Infolgedessen war er so liebenswürdig, uns für dieses
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