Lied aus der Vergangenheit
Die Wolken stehen reglos am Himmel. Alles ist still. Auf den Straßen kein Verkehr. Sogar die Vögel schweigen. Adrian sitzt auf der Veranda von Mamakays Obergeschossnachbarn und trinkt Kaffee.
»Ich sollte jetzt gehen«, sagt er und meint das genaue Gegenteil. Er möchte herausfinden, ob sie den Rest des Tages Zeit hat.
»Du darfst nicht.«
Er lächelt. »Darf ich nicht?«, fragt er neckend. »Warum nicht?«
Und sie antwortet: »Nein, ich meine, du darfst wirklich nicht gehen. Heute ist Putzsamstag.«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt, dass man bis Mittag zu Haus bleiben und seinen Hof kehren muss. Niemand darf auf die Straße, außer um sie zu kehren.«
Davon hat er noch nie was gehört. Mamakay erklärt es ihm. Eine der Juntas hat die Putztage eingeführt. Ihre erste Amtshandlung. Indem sie alle dazu brachten, am letzten Samstag des Monats ihre unmittelbare Umgebung zu säubern, verwandelten sie die Stadt. Der Optimismus war von kurzer Dauer. In den folgenden Jahren wurde die Hauptstadt zweimal geplündert. Trotzdem, die Putzsamstage blieben, und das war immerhin etwas.
»Was kann ich tun?«
»Ich war heute Morgen schon draußen. Bevor du aufgewacht bist.«
Die Stille, die wie ausgestorbenen Straßen sind erklärt. Jetzt, wo sie noch zwei Stunden hier festsitzen, holt Adrian Zeichenblock und Stifte; eigentlich hat er vor, den Taubenschlag zu zeichnen, aber stattdessen fängt er an, Mamakays Profil zu skizzieren, wie sie mit dem Rücken zum Morgenlicht sitzt. Er hat sich seit seiner Schulzeit nicht mehr an einer menschlichen Figur versucht. Aber Mamakay ist unbefangen, sie verkrampft sich nicht, noch versucht sie eine klassischere oder vorteilhaftere Pose einzunehmen, ja sie denkt überhaupt nicht daran zu posieren und bewegt sich, wie es ihr passt. Adrian zeichnet drauflos: eine Serie kleiner grober Skizzen, durch die er versucht, die Kurve ihres Rückgrats, die Wölbung des Muskels an der Rückseite ihres Oberschenkels, die Linie einer Ferse einzufangen.
»Babagaleh hat mir erzählt, dass du viel Zeit mit meinem Vater verbringst.« Sie sitzt jetzt auf der Armlehne des Sofas und beobachtet ihn.
Adrian zeichnet die Linie von Mamakays Kinn bis hinunter zu ihrem Schlüsselbein. »Das stimmt.«
»Was will er denn?«
»Reden.«
Sie nickt, stützt ihr Kinn auf den Arm und schwenkt den Blick hinaus über das Balkongeländer.
Adrian ist sich von Anfang an über die genaue Natur seiner Beziehung zu Elias Cole im Unklaren gewesen. Elias hat nie über ein spezifisches Problem geklagt oder um Hilfe gebeten. Er leidet nicht an einer Neurose, das steht außer Frage. Schon vor langer Zeit, gleich zu Beginn, hat Adrian es aufgegeben, Elias als einen Fall oder auch nur einen möglichen Fall zu behandeln. Er machte sich klinische Notizen, weil er das Gefühl hatte, das sei das Mindeste, was man von ihm erwarten konnte. Elias schien ihm ein einsamer Mensch auf der Suche nach einem friedlichen Tod zu sein. Adrian hätte ebenso gut Priester, Imam, Berater oder ein Laie sein können.
»Was hat Babagaleh gesagt?«
»Nichts.«
»Wirklich?«
»Er ist ein verschwiegener Mensch. Er hat gelernt, seine Meinung für sich zu behalten. Wie jeder andere hier.«
»Was meinst du damit?«
»Ist dir das noch nie aufgefallen? Dass niemand je über irgendetwas spricht? Über das, was hier passiert ist. Den Krieg. Vor dem Krieg. Es ist wie ein Geheimnis.«
Adrian erinnert sich an seine ersten Patienten – oder Patienten in Anführungsstrichen –, an ihren Widerwillen, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Er hat es anfangs als Reaktion auf ein Trauma gedeutet. Mittlerweile hat er begriffen, dass es gleichzeitig auch Teil einer grundsätzlichen Lebenseinstellung ist, die hier herrscht. Es ist ihm nach und nach klar geworden, zur Gänze vielleicht erst in diesem Moment. Es ist fast so, als hätten sie Angst, in die Umstände ihres eigenen Lebens verwickelt zu werden. Das Gleiche gilt für fast alle Männer in der Anstalt. Fragen bereiten ihnen Unbehagen. Sich-Erinnern, Sprechen. Mamakay hat recht, es ist so, als sei das ganze Land auf die Wahrung eines entsetzlichen Geheimnisses eingeschworen. Also entscheiden sich die Menschen dafür zu verstummen – die einzige Möglichkeit, zu gehorchen und gleichzeitig Widerstand zu leisten.
Alle außer Cole. Das wird ihm jetzt zum ersten Mal bewusst. Der Bleistiftstrich irrt auf dem Papier ab und versiegt. Alle außer Elias Cole. Adrian runzelt die Stirn, noch immer über den Block
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