Lied aus der Vergangenheit
den Jungen nicht. »Ja«, erwidert er.
»Und jetzt muss sie mit ihm zusammenleben und darf nichts sagen, weil ihre Tochter nicht weiß, was er getan hat.«
Er hat alles mit angehört, was in dem Haus gesprochen wurde.
»So ist es«, sagt Kai.
»Und alle anderen halten auch den Mund.«
»Ja.«
»Wie steht’s mit uns?«
Kai wirft Abass einen kurzen Blick zu, doch der Junge erwidert ihn nicht, sondern starrt stur geradeaus. Die Dunkelheit scheint auf sie zuzurasen, an der Windschutzscheibe auseinanderzubrechen und sich hinter ihnen wieder zu schließen. Abass sagt: »Müssen auch wir den Mund halten?«
»Nein«, sagt Kai. »Nein, müssen wir nicht.«
»Und wenn wir in dieser Stadt leben würden? Müssten wir dann den Mund halten?«
Eine Zeit lang hört Kai nichts als das Rauschen des Fahrtwinds. »Ich weiß es nicht«, sagt er.
Das Krankenhaus liegt, abgesehen vom Schimmer der Notbeleuchtung, dunkel da. Kai und Abass gehen an den Stationen vorbei. Eine Tür ist nicht geschlossen; durch den Spalt sieht er eine Schwester an ihrem Tisch. Gedämpfte Schritte, Flüstern, das langsame Quietschen von Rädern und von Gummi auf Linoleum.
Kai schließt die Tür von Adrians Wohnung auf und schaltet die Deckenbeleuchtung ein. Da sind die Bücher, die zwei Becher auf dem Tisch, seit dem Morgen unberührt. Er macht kehrt und geht wieder.
38
Adrian erreicht Elias Coles Zimmer um Viertel nach vier. Fünfzehn Minuten verspätet. Ein Wolkenbruch und ein überfließender Abwasserkanal haben den Verkehr vorübergehend zum Erliegen gebracht. Dann ist er noch kurz in seine Wohnung gegangen, um sich umzuziehen. An der Tür des Privatzimmers hängt ein laminiertes Schild: Keine Besucher . Er bleibt kurz mit der Hand am Türknauf stehen, zögert und zieht sie zurück. Dann macht er kehrt und geht wieder.
39
Der junge Mann setzt sich auf dem Stuhl um und mustert seine Füße. Seine Stimme ist fast unhörbar. Die anderen im Stuhlkreis beobachten ihn, wie aus großer Ferne.
»Hier.« Er tippt sich seitlich an den Kopf. »Die tun dir das in den Kopf. Danach bist du stark. Du kämpfst.« Auf dem Jochbein, unter seiner Schläfe, zieht sich eine Reihe von kurzen dicken Narben hin. Sein Name ist Soulay.
Ileana hat Adrian vor Beginn der Sitzung Soulays Akte gegeben. Ein zu den Rebellen übergelaufener Soldat, war er im Rahmen eines Versöhnungsabkommens wieder in die Armee aufgenommen worden. Es hatte nicht funktioniert. Bei einer zweiten personellen Umstrukturierung wurde er entlassen. Er arbeitete als Wachmann, schaffte es aber nicht, einen Job längere Zeit zu behalten. Soulay ist wiederholt durch Gewalttätigkeit und unberechenbares Verhalten aufgefallen und leidet außerdem unter quälenden Kopfschmerzen, für die er die Drogen verantwortlich macht, die ihm verabreicht worden waren. Adrian glaubte zwar nicht an einen Zusammenhang, doch das bedeutete keineswegs, dass die Migräneanfälle eingebildet waren.
»Was war Ihr letzter Traum?«
Der junge Mann schüttelt den Kopf. Es geht nur zäh voran. Jemand im Raum scharrt mit den Füßen und lacht. Adecali.
»Ja?«, sagt Adrian und wendet sich Adecali zu.
Allmählich gewöhnt er sich an dieses Gelächter. Fremdartig und surreal, ist es nahezu allgegenwärtig, nicht nur in der Anstalt, auch draußen. Er muss, wie so oft, an Mamakay denken, wie sie ihm einmal etwas erklärte, was er gehört und nicht verstanden hatte. »Es bedeutet: ›Ich fall hin, ich steh wieder auf.‹ Wenn jemand dich fragt, wie es dir geht, kannst du vielleicht nicht ehrlich sagen, dass es dir gut geht. Dann sagst du eben das.« Galgenhumor. Adrian zerrt sich in die Gegenwart zurück.
»Was gibt’s, Adecali? Was möchten Sie uns sagen?«
»Er plärrt nach seiner Mama. Er springt aus dem Bett.« Auch Adecali leidet unter Albträumen. Er ist außerdem inkontinent. Er hat eine panische Angst vor Feuer, vor Öllampendochten, Streichhölzern, Feuerzeugen. Niemand wusste so genau, woher das kam, und Adrian fragt sich, welche Erinnerungen Feuer bei Adecali heraufbeschwört, der zusätzlich zu alldem unter einer komplexen Kombination von Zuckungen und Stottern leidet. »M-m-m-mama.« Von den vier Patienten im Zimmer wirkt er äußerlich als der gestörteste.
»Möchten Sie vielleicht über einen Ihrer Träume sprechen?« Die Sitzungen strengen Adrian sehr an. Am Ende ist er immer erschöpft. Und in Hochstimmung. Es ist genau das, wonach er sich gesehnt hatte.
Adecali schlägt die Augen nieder und macht den Mund
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