Lied aus der Vergangenheit
rannte weiter, Kai hinter ihm her. Jetzt waren sie auf der Brücke. Kai konnte das Ende nicht sehen, nur den Soldaten, der vor ihm lief. Die Brücke begann auseinanderzubrechen, er verlor den Boden unter den Füßen. Er merkte, dass er fiel. Er öffnete den Mund, um zu schreien, aber die Wucht des Windes schlug ihm alle Luft aus den Lungen .
Er schreckt aus dem Schlaf. Er sitzt auf einem Stuhl im Aufenthaltsraum. Drei Ärzte und eine Schwester sitzen am Kaffeetisch und reden miteinander. Seligmann arbeitet am Computer und pfeift »Love Me Tender«. Kai bleibt regungslos sitzen. Er atmet schwer, seine Achselhöhlen sind feucht. Schweiß rinnt ihm den Nacken hinunter. Er schaut sich um, ob jemand ihn beobachtet hat, aber seine Kollegen reden einfach weiter miteinander. Er wartet eine weitere Minute ab, geht dann in den Waschraum und spritzt sich Wasser ins Gesicht. Er hält die Hände unter den Wasserhahn und trinkt daraus. Er betrachtet sich im Spiegel und denkt an Nenebah.
Während der zweiten Invasion hatte er ihre Familie nach Kräften unterstützt. Als Arzt genoss er Freizügigkeit und Schutz. Er setzte seinen Einfluss ein, um sich kleine Mengen Lebensmittel zu beschaffen. Die Stadt war zweigeteilt, eine Seite wurde von den Rebellen, die andere von den Regierungstruppen und der Einsatztruppe kontrolliert. Eine Brücke teilte die Stadt, allerdings nicht die aus seinem Traum. Diese spannte sich zwischen dem Osten und dem Westen der Stadt. Die belagerten Einwohner des Westteils saßen zwischen der Rebellenarmee auf der einen, dem Meer und den Bergen auf der anderen Seite fest.
Kai verlässt den Aufenthaltsraum und überquert den Innenhof zu Adrians Wohnung. Nieselregen dämpft die Hitze. Er hat sich diesen Nachmittag freigenommen, um an seinem Antrag auf eine Arbeitserlaubnis für die USA weiterzuarbeiten. Entgegen Tejanis Versicherungen ist die Menge an erforderlichem Papierkram erdrückend. Empfehlungen, beglaubigte Kopien seines Unidiploms und weiterer medizinischer Zeugnisse, seiner Geburtsurkunde. Die städtischen Archive waren geplündert worden, was die Sache noch weiter erschwerte. Außerdem musste er sich durchchecken lassen. Das stellte einerseits kein Problem dar, nur hatte Kai noch niemandem im Krankenhaus von seinen Plänen erzählt. Das Gleiche galt für die Referenzen. Wen sollte er um eine bitten? Seligmann? Das wäre ihm wie ein Verrat vorgekommen.
Über das alles denkt er nach, während er den Korridor entlang in Richtung Wohnung geht.
Zwei Abende zuvor hatte Kai sich zu Hause ein paar Formulare angesehen. Abass war, müde vom Spielen, hereingekommen und hatte sich, das Kinn auf Kais Schulter, mit hängenden Armen und Beinen über die Rückenlehne des Sofas gelegt. In dieser Position hatte er das Blatt in Kais Hand gelesen und mit lauter fordernder Stimme gefragt: »Was ist die Einwanderungsbehörde?«
Kai hatte den raschen Blick seiner Cousine gespürt, die von ihrem Buch aufgeschaut hatte.
»Weißt du eigentlich, wie unhöflich es ist, über jemandes Schulter zu lesen?«, sagte er zu Abass.
Er legte die Papiere mit der bedruckten Seite nach unten auf den Couchtisch, zog das Kind von der Sofalehne herunter und fing an, es zu kitzeln, während er spürte, wie seine Cousine sie beide verstohlen beobachtete.
In der leeren Wohnung setzt Kai sich auf das Rattansofa und legt den Umschlag mit den Dokumenten vor sich auf den Tisch. Dann holt er sich aus der Küche ein Glas Wasser, sortiert die Formulare zu einem einzigen Stapel und beginnt, sie durchzulesen. Zehn Minuten lang arbeitet er so, dann steht er auf und schaltet den Ventilator ein. Der Regen hat, wie so oft, lediglich zeitweilige Linderung gebracht und die Wolken nur gelichtet, damit die Sonne umso brennender herabscheinen kann. Kai hat Adrian seit Wochen nicht mehr gesehen. Offenbar hat er in der psychiatrischen Anstalt viel zu tun. Kai hat es noch nicht einmal geschafft, ihm von seiner zweiten Fahrt in Agnes’ Heimatstadt zu berichten. Er muss es unbedingt nachholen.
In den Tagen nach seinem Besuch hat Kai viel über die Geschichte der Frau nachgedacht. Mit den grausigen Fakten gab er sich nicht weiter ab, denn solche Gräueltaten waren im Krieg nun einmal an der Tagesordnung gewesen. Er hatte als Arzt oft genug mit deren Folgen zu tun gehabt. In Agnes’ Fall ging es um das unerträgliche Nachspiel, um das Wissen, und dass man nichts daran ändern konnte, sondern es lediglich ertragen. Eine Zeit lang hatte Kai sogar noch mehr
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