Lied aus der Vergangenheit
gebeugt.
Mamakay sagt gerade irgendetwas. Er schaut auf. »Entschuldigung, was?«
»Ich hab gefragt, wie deine Zeichnungen werden.«
»Ach, gut. Ja, ich bin ganz zufrieden. Du bist leicht zu zeichnen. Klingt das blöd? Vielleicht ja.«
»Nein«, sagt Mamakay. »Tut es nicht. Obwohl ich selbst nicht zeichnen kann. Meine Mutter konnte zeichnen. Pflanzen. Sie war Botanikerin.«
»Wie war es bei euch zu Hause?«
»Meine Eltern standen sich nicht sonderlich nah, ich war das Bindeglied. Ich erinnere mich an Dinge, die ich mit meiner Mutter, und Dinge, die ich mit meinem Vater unternahm. An Dinge, die ich mit meiner Mutter und meinem Vater unternommen hätte, kann ich mich nicht erinnern. Meine Mutter war eine ziemliche Einzelgängerin, auch wenn sie mich manchmal mitgenommen hat, Proben sammeln. Ich habe meine eigenen Blumen getrocknet, ich hatte eine kleine Presse und alles. Aber es gefiel mir nicht, wie die gepressten Blumen aussahen, so verblasst und ohne jedes Leben. Mein Vater begleitete mich in die Sonntagsschule und erzählte mir Geschichten, er sprach mit mir über Geschichte.«
»Hast du dich deswegen für Geschichte entschieden?«
»Ja. Als ich älter wurde, durfte ich ihm bei seinen Recherchen helfen, ihm Bücher aus der Bibliothek holen und die relevanten Seiten auszeichnen. Dadurch kam ich mir sehr wichtig vor. Er nahm mich mit zu den Archiven in der Universität. Wir sprachen über die Themen, an denen er gerade arbeitete. Ich schätze, ich wollte es ihm einfach in allem recht machen. Wie das bei kleinen Mädchen eben so ist.«
»Aber du hast dein Studium nicht abgeschlossen.«
»Nein.«
Adrian wartet darauf, dass Mamakay weiterredet, aber sie tut’s nicht. Zum zweiten Mal hat er das Gefühl, dass etwas unausgesprochen bleibt. Mamakay gibt ihre Pose auf und beugt sich über die Balkonbrüstung. Adrian wird plötzlich bewusst, dass er sie so gut wie nie im Krankenhaus gesehen hat. Eigentlich nur das eine Mal, als sie sich mit Babagaleh unterhalten hat. Er hat nie gesehen, dass sie ihren Vater besucht hätte, obwohl sie das, wie er annimmt, bestimmt tut. Sie dreht sich zu ihm um, den Rücken zum Licht. Er kann ihren Ausdruck nicht erkennen.
»Es ist Mittag«, sagt sie. »Wir sind erlöst.«
40
Im geschulterten Sack hatte er einen altbackenen Brotfladen, ein paar Zwiebeln, ein in Papier eingeschlagenes Stück Fleisch. Ein Mann blieb stehen und bat ihn um etwas zu essen, Kai schüttelte den Kopf, doch der Mann ließ nicht locker und streckte die Hand nach Kai aus. Die Berührung machte Kai wütend. Er schlug die Hand des Mannes weg. Doch der Mann ließ sich nicht abschrecken und berührte ihn noch ein weiteres Mal. Kai fuhr herum, um ihn zur Rede zu stellen, und sah, dass es der Soldat aus dem Krankenhaus war, unverwechselbar dank der Beschaffenheit seiner Verletzung. Dem Mann fehlte ein Teil des Gesichts, der Unterkiefer war ihm fast vollständig weggeschossen worden, sodass Gaumen und Zähne bloß lagen. Er war mit der ausländischen Einsatztruppe ins Land gekommen. Kai hatte ihn im Krankenhaus auf dem Korridor gefunden, wo er neben einer drei Stunden alten Leiche und einer Pfütze von öligem, schwarz gewordenem Blut saß, noch bei klarem Verstand und bemerkenswert guter Dinge, im Glauben, gerettet zu sein. Kai wusste, dass er sterben würde.
Aber irgendetwas stimmte nicht. Was tat er hier? Kai konnte die riesige Zunge sehen, die obszön flatterte, als der Mann ihn anzusprechen versuchte. Kai verstand, dass er Hunger hatte und um etwas zu essen bat. Kai wollte ihm nichts geben, aber das zerstörte Gesicht schwebte bedrohlich vor ihm. Er schwang den Sack von der Schulter und bückte sich, um ihn zu öffnen, aber als er aufschaute, hatte sich der Mann abgewandt und schlenderte, einen Elvis-Song pfeifend, die Straße entlang davon.
Kai fing an zu laufen. Plötzlich war der Mann hinter ihm, verfolgte ihn, holte mit großen Sätzen rasch auf. Noch einen Augenblick, und er würde ihn zu fassen bekommen. Kai musste Nenebahs Haus erreichen. Aber er wollte den verrückten Krüppel nicht dorthin führen, also wechselte er die Richtung. Das Laufen wurde zunehmend anstrengender: Um seine Beine zu bewegen, musste er jedes Quäntchen Energie mobilisieren, das in ihm steckte. Trotzdem wurde er langsamer. Er spürte, dass der Mann immer näher kam. Und dort, vor ihnen beiden, die Brückenstraße, lang und leer. Der Mann hatte ihn überholt und rannte direkt darauf zu. Stopp!, wollte Kai schreien. Der Mann
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