Lied aus der Vergangenheit
entschieden zu sprechen. Es ist Adrian nie in den Sinn gekommen, nach dem Grund zu fragen, ebenso wie er die Anwesenheit eines Patienten in seinem Sprechzimmer nie hinterfragt, sondern lediglich wissen will, wie er ihm helfen kann. Was Elias Cole und die Männer in der psychiatrischen Anstalt und auch die Patienten, die man in der Anfangszeit im Krankenhaus an ihn überwies, unterscheidet, ist die Tatsache, dass Cole gebildet ist. Je gebildeter ein Mensch ist, desto mehr ist er befähigt, seine Erfahrungen zu artikulieren. Ebenso, natürlich, sie zu reflektieren. Weniger gebildete Menschen neigen dazu, ihre Konflikte körperlich, durch Gewalt, zum Ausdruck zu bringen oder aber psychosomatisch: durch Taubheit, Blindheit, Stummheit, Lähmungserscheinungen, Halluzinationen – optische und olfaktorische. Adecalis bratendes Fleisch.
Außerhalb von psychiatrischen Kreisen gilt es nicht als korrekt, über diese Unterschiede zu sprechen, aber an der Tatsache ist nicht zu rütteln. Nach Adrians Ansicht sind die Patienten der zweiten Kategorie weit einfacher zu behandeln; die der ersten bieten die interessanten Herausforderungen. Er betritt Elias Coles Zimmer.
»Wie fühlen Sie sich?«
»Ganz so, wie ich aussehe«, sagt Elias Cole. »Noch nicht tot.« Er hustet und spuckt in ein Taschentuch. »Ich muss mich wegen letzter Woche entschuldigen. Die Ärzte sind der Ansicht, dass ich mich in letzter Zeit überanstrengt habe. Sie meinen, ich sollte versuchen, nicht zu sprechen.« Er stößt ein farbloses Lachen aus. »Ich habe Babagaleh losgeschickt, damit er Ihnen Bescheid sagt, aber er hat Sie nicht finden können.« Er sieht Adrian an, der einen Anfall von Schuldgefühl verspürt. Er fragt sich, ob Elias Cole etwas weiß, ob dieser Blick irgendetwas enthält.
»Es tut mir leid«, erwidert er. »Wenn ich nicht hier bin, bin ich im Allgemeinen in der psychiatrischen Anstalt.«
»Ah! Und wie geht es den Insassen? Ich hoffe, Sie können ihnen Frieden bringen.«
»Es ist interessant, dass Sie das ansprechen. Ist Frieden das, was Sie selbst ersehnen?«
Wieder dieser Blick. Was genau birgt er? Mamakay hat ihn geerbt, bei ihr wirkt er allerdings eher belustigt, weniger berechnend. Adrian erwartet eigentlich nicht ernstlich, dass Cole antworten wird, aber dann sagt der alte Mann: »Ich habe Ihnen irgendwann einmal gesagt, dass diese Geschichte drei Enden hat: Wir warten jetzt lediglich auf das dritte.«
Meine Beförderung zum Amt des Dekans fiel zeitlich mit unserem Auszug aus dem Campus zusammen. Es bestand kein Zweifel, dass sich die Dinge geändert hatten. Der Campus war nicht mehr das, was er einmal gewesen war. Jetzt gab es Unruhestifter unter der Studentenschaft. Es war so gekommen, dass ich im Lauf der Jahre genug verdient hatte, um ein Haus bauen zu können – ein Projekt, mit dem ich seit einiger Zeit geliebäugelt hatte.
Das neue Haus lag im Westteil der Stadt. Ich hatte das Glück gehabt, der Stadt mehrere Parzellen auf einmal abkaufen zu können, und so war das Haus von einem ansehnlichen Garten umgeben. Nach Jahren auf dem Campus, wo die Grünanlagen von einem Trupp städtischer Arbeiter gepflegt wurden, hatte Saffia wieder ihren eigenen Garten. Sie machte sich gleich an die Arbeit, terrassierte das Land, legte nach hinten hinaus einen Obstgarten an, zur Straße hin Rasenflächen und Blumenbeete.
Ich meinerseits hatte an der Universität genug zu tun. Der Dekan war zum Rektor ernannt worden. Es gab Mittelkürzungen und häufig Stromausfälle. Es gab Streiks und Petitionen – die jungen Leute hatten sich seit meiner Zeit sehr verändert. Sie schienen zu glauben, wir könnten wie durch Zauberkraft Licht aus dem Dunkel erschaffen, und waren davon überzeugt, für alles einen Sündenbock finden zu müssen.
Wir waren seit einundzwanzig Jahren verheiratet und wohnten seit vier in unserem neuen Haus.
Es macht mich nicht stolz, Ihnen zu gestehen, dass ich an dem Tag woanders war. So begab es sich, dass Babagaleh der Erste war, der von der Sache erfuhr.
Das ist Ihre erste Regenzeit, jetzt sehen Sie also, wie sich der Regen in diesem Teil der Welt gebärdet. Und was Sie jetzt erleben, ist erst der Anfang. Der Regen kommt über den Atlantik herangetrieben, und hier am Rande des Kontinents bekommen wir seine ganze Wucht ab.
Saffia hatte ihre Nebenbeschäftigung als Lieferantin von Blumen für Hochzeiten und Ähnliches beibehalten. Nicht viele Leute heiraten während der Regenzeit, die meisten ziehen das Ende des Ramadan
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