Lied aus der Vergangenheit
Platz zurück.
»Sie hatte Historikerin werden wollen. An diesem Tag verlor sie ihren Glauben an mich. Anfangs dachte ich, sie trauerte um ihre Mutter, aber zwischen uns tat sich eine Kluft auf, die nie wieder überbrückt wurde. Sie war in diesem bestimmten Alter – kein Kind mehr und doch noch immer ein Kind. Irgendwie erfuhr sie davon. Die Leute tratschen, man kann nichts dagegen tun.« Er schließt die Augen. »Nichts. Ich hatte Feinde, sie müssen ihre diebische Freude daran gehabt haben.«
Draußen ist die Sonne fast untergegangen. Der Regen hat aufgehört, und die Farben der Erde haben den Himmel mit einem tiefen Rot durchtränkt. Die Skelette der zwei Drachen flattern im NATO -Draht. Jemand geht den Korridor entlang; das Geräusch seiner Schritte wird erst lauter, dann leiser und leiser.
Adrian sagt: »Ich weiß nicht genau, ob ich Sie verstehe.«
Der alte Mann seufzt. »Babagaleh wusste, wo er mich finden würde. Begreifen Sie nicht? Er muss es schon die ganze Zeit gewusst haben. Vielleicht wusste Saffia es ebenfalls, wer weiß?«
»Und wo waren Sie?«
»Ich war bei meiner Mätresse.«
Adrian lässt sich seine Überraschung nicht anmerken.
»Ja, meiner Mätresse. Seit dem vierten Jahr meiner Ehe mit Saffia hatte ich mir eine Mätresse gehalten. Immer dieselbe, in der Hinsicht war ich treu. Sie müssen verstehen … nein, es würde mich freuen, wenn Sie verstehen würden, dass sie mir etwas gab, was ich von Saffia nie bekam. Bei ihr fühlte ich mich nicht mangelhaft, als zweite Wahl. Alles mit Sicherheit ganz banal. Glauben Sie mir, ich war mir schon damals durchaus dessen bewusst. Es änderte nichts.«
»Und Sie waren zum Zeitpunkt von Saffias Unfall bei ihr?«
»Bei Vanessa, ja.«
42
Die schwere Luft hält noch den letzten Ton ihrer Klarinette, während sie schon über den Patio geht. Adrian ist halb aufgestanden, als sie sich auf den Stuhl neben seinem fallen lässt, die Bierflasche in die Hand nimmt und sich an die Lippen führt. Ihr Kleid ist feucht, ihr Gesicht und Hals nass. Er gibt ihr einen Kuss auf die Wange, ein zugleich salziger und süßer Geschmack.
Sie stellt die Flasche wieder hin und schnappt nach Luft, wie ein Kind. »Wie war’s? Konntest du richtig hören?«
»Absolut. Es war toll.«
Sie nickt und fügt hinzu: »Abgesehen vom vergeigten Ton in der Mitte.«
»Es war schön«, sagt Adrian, der keine Ahnung von Musik hat.
»Es war nicht schlecht.«
Leute gehen am Tisch vorbei. Mamakay klatscht einen der anderen Bandmitglieder ab, und der Mann nimmt neben ihr Platz. Sie unterhalten sich kurz über Musik, in für Adrian unverständlichen Ausdrücken.
Im Lauf des Tages hat Adrian kaum an etwas anderes gedacht als an sein Gespräch mit Elias Cole – bis Mamakay auf die Bühne getreten ist und angefangen hat zu spielen. Er trinkt einen Schluck von seinem Bier. Mamakay hat ihres schon fast ausgetrunken. Er bestellt mit einer Handbewegung zwei weitere.
Elias Cole hat ihn um Hilfe gebeten. Er wusste nichts von ihm und Mamakay – zumindest war sich Adrian dessen ziemlich sicher. In dem Sinne war es also keine konkrete Bitte, und Adrian konnte sie noch immer ignorieren. Ebenso wenig ist er ihm in professioneller Hinsicht irgendetwas schuldig. Gleichzeitig liegt es nicht in seiner Natur, sich vor etwas zu drücken, was Anstand oder Moral gebieten, denn er ist anders erzogen worden, und jetzt kann er nicht aus seiner Haut heraus. Und dann ist da noch Mamakay. Elias Cole ist ihr Vater. Elias Cole liegt im Sterben. Adrian trinkt einen Schluck Bier. Er betrachtet die Klubgäste, die Menschen, die nach dem Auftritt der Combo noch immer auf der Tanzfläche herumstehen, einen Kellner in schlackernden Schuhen, der mit einem Tablett voller Drinks über die Fläche eilt, die Huren mit den nackten Schultern an der Bar, Mamakay, die sich mit ihrer Freundin unterhält. Er betrachtet ihre Hände und Finger, die fliegen und flattern, genau so, wie wenn sie Klarinette spielt. Er hat sie einmal darauf angesprochen, und sie hat entgegnet, das sei ein Zeichen von mangelhafter Technik. Sie lässt sich nie von der Fantasie aufhalten, die einzige Flucht, die sie sich gestattet, ist die in ihre Musik.
Letzte Nacht, als der Mond noch nicht so voll wie jetzt war, hat er ihr beim Schlafen zugesehen. Er beobachtete die Bewegung hinter ihren Augenlidern und wusste, dass sie träumte. Er hätte sie am liebsten geweckt, nur um sie zu fragen, ob sie von ihm träumte.
Er liebt sie. Letzte Nacht hätte er ihr
Weitere Kostenlose Bücher