Lied aus der Vergangenheit
seinem Stuhl so weit zurückgelehnt hatte, dass dieser nur auf den Hinterbeinen balancierte, beugte sich jetzt vor und ließ den Stuhl wieder auf allen vieren landen. Er stellte seine Flasche vor sich auf den Tisch und betrachtete sie aufmerksam, als wäre sie ein Miniaturraumschiff. Der Stuhl, der unter Julius’ Körpermasse völlig unzulänglich wirkte, knarrte. »Für sie selbst vielleicht nichts. Wohl aber für die Männer, die daran arbeiten, diese Apparate zu bauen. Sie tun es in dem Bewusstsein, dass sie jeden Tag etwas Neues entdecken – auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, der Technik, des Maschinenbaus. Nicht, um als Erste den Mond zu erreichen, obwohl sie das verbindet. Sondern weil das, was sie auf dem Weg dahin lernen, das Wissen der Menschheit mehrt. Ein Jahrhundert Arbeit in einer einzigen Dekade.« Er fing mit dem Daumen einen Tropfen Kondenswasser ab und strich ihn an der Flasche hinunter. In der folgenden Stille ergriff ich die Gelegenheit, mich am Gespräch zu beteiligen.
»Es heißt, man wird es im Fernsehen verfolgen können.«
»Stimmt! Hey, Kekura, was meinen Sie? Wir kommen zu Ihnen in den Sender und schauen uns das an.«
Kekura neigte den Kopf. »Wäre mir ein Vergnügen, gewiss.«
»Ein historischer Augenblick. Aber ich verrate Ihnen, was ich noch lieber erleben würde«, sagte Julius, die Augen noch immer auf die Flasche gerichtet.
»Und das wäre?«, fragte ich.
Julius sah mit feierlicher Miene auf. Er streckte die Hand aus und nahm sein Bier. Plötzlich breitete sich ein gewaltiges Grinsen über sein Gesicht aus. »Den Tag, an dem der erste Afrikaner auf dem Mond landet!«
Das Gelächter brach gerade in dem Augenblick aus, als Saffia die Schiebetür öffnete, um uns zum Essen zu rufen. Julius stand auf und hielt die Flasche Guinness in die Höhe. »Auf den ersten Schwarzen auf dem Mond!«
»Auf den ersten Schwarzen auf dem Mond«, echoten wir und tranken.
Ich kann mich nicht erinnern, worüber an dem Abend an Saffia und Julius’ Tisch alles gesprochen wurde. Nicht über Politik, das weiß ich noch. Jedenfalls nicht explizit. Später fragte ich mich, wie die Unterhaltung wohl verlaufen wäre, wenn sie keinen Fremden unter sich gehabt hätten. Ich aß, ohne zu merken, was. Zeit verging. Gesprächsthemen lösten sich ab. Ein neues chinesisches Restaurant. Ein Straßenbauprojekt. Eine neue humoristische Radioserie, die Kekura produzierte und für die er ständig auf der Suche nach neuem Material war. Jemand – ich glaube Ade – erzählte eine Geschichte. Sie ging folgendermaßen: Drei Männer kamen zu einem Autohaus, einer von ihnen ein aristokratisch aussehender Bursche in feinem Gewand und mit einem Diplomatenkoffer in der Hand. Ein nigerianischer Prinz, der einen ganzen Wagenpark zu kaufen beabsichtigte. Der Geschäftsführer des Autohauses kam herausgestürzt, um ihn persönlich zu begrüßen. Der Prinz reichte ihm die Hand, würdigte ihn aber keines Wortes, sondern überließ es seinen Begleitern, die Details zu besprechen. Sie waren bereit, in bar zu bezahlen. Ja, der Prinz hatte das Geld in seinem Diplomatenkoffer dabei. In seinem Übereifer willigte der Geschäftsführer sofort ein, den zwei Höflingen eine Probefahrt mit einem der neuesten Modelle zu gestatten. Durch die Anwesenheit des schweigsamen Prinzen beruhigt, der mit seinem Koffer voller Geld auf den Knien im Wartebereich saß, entschied er sich dafür, die beiden nicht zu begleiten. Zeit verging. Aus einer Stunde wurden zwei. Der Wagen und die zwei Höflinge machten keine Anstalten zurückzukommen. Der Geschäftsführer beschloss, mit dem Prinzen zu reden, und erkannte bald seinen gewaltigen Fehler. Denn das war überhaupt kein Prinz, sondern ein taubstummer Bettler aus dem Ort, den man dazu gebracht hatte, ahnungslos eine Rolle zu spielen, für die er hervorragend geeignet war. Der Diplomatenkoffer war, wie sich herausstellte, mit Zeitungspapier gefüllt.
Alle lachten, Julius so heftig, dass er ganz außer Atem geriet. Mir persönlich kam das nicht weiter ungewöhnlich vor, aber ich bemerkte bei Saffia eine Veränderung. Sie sah ihn besorgt an und schien schon aufstehen und zu ihm gehen zu wollen, als Julius sich wieder fing. Ich hätte der Episode keine weitere Beachtung geschenkt, wäre nicht Saffias Reaktion gewesen, die ein Licht auf die Tiefe und Beschaffenheit ihrer beider Beziehung warf.
Als das allgemeine Gelächter verklungen war, fragte sie: »Was wurde aus dem Bettler, dem Prinzen?«
Ade
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