Lied aus der Vergangenheit
Jungen weiten sich leicht, er nickt kurz, ohne ein Wort oder ein Lächeln, neugierig, was für einen Jux sich Kai wohl leisten wird. Kai reicht ihm eine Münze. Der Junge nimmt sie und serviert sich eine seiner eigenen Kokosnüsse mit der gleichen Sorgfalt und Eleganz, die er für einen Kunden aufbringen würde.
Irgendwo, denkt Kai, in einem Land namens Amerika, gibt es größere und kleinere Städte. New York, Washington, San Francisco, Atlanta. Er versucht, sich dieses Land vorzustellen, aber diesmal gelingt es ihm nur, Bilder aus Spielfilmen und Werbespots heraufzubeschwören. Er kann sich nicht vorstellen, wie es dort sein wird, nur dass es weit weg von alldem hier ist.
In den letzten Tagen der Invasion zogen sich die Rebellen aus diesen Straßen zurück. In ihrer Wut entdeckten die Einwohner ihren Mut und wandten sich endlich gegen ihre Unterdrücker. Die Ärzte zogen manchmal los und machten eine Runde durch die Stadt, um Leichen einzusammeln, Totenscheine auszustellen und die Toten in die Leichenkammer des Krankenhauses zu stopfen. Ein vergeblicher Versuch, der Ungebärdigkeit des Krieges einen Anschein von bürokratischer Ordnung aufzuzwingen. Auf dieser Straße sah Kai einmal ein junges Mädchen, im Tod verrenkt, auf der Fahrbahn liegen. Vierzehn, allerhöchstens sechzehn. Jemand hatte versucht, sie auszuziehen. Sie lag auf der Straße in scharlachrotem BH und Höschen, die sie zweifellos irgendwann in einer schicken Boutique geplündert hatte. Die Anwohner verwehrten Kai und seinem Team die Erlaubnis, den Leichnam zu berühren. Sie war der befehlshabende Offizier gewesen, der den Angriff angeführt hatte. Sie verweigerten ihr das Recht auf eine anständige Beerdigung. Der minderjährigen Rebellenführerin in gestohlener seidener Unterwäsche.
Kai starrt auf die Stelle, wo das Mädchen gelegen hatte. Über dem Asphalt kräuselt sich die heiße Luft. Im Gewaber sieht er sie, das Leuchten der Unterwäsche auf der dunklen Haut. Er schaut weg. Als er wieder hinsieht, ist die Straße leer. Der Junge beobachtet ihn. Kai reicht ihm die nicht aufgegessene Kokosnuss und geht.
Was er nicht vergessen darf, sagt er sich, woran er sich klammern muss, ist das: Seit er sich entschlossen hat, das Land zu verlassen, kann er nachts wieder schlafen.
»Heute Nacht wird’s ein Gewitter geben, ja. Glaube ich.«
Foday ist die Sorte Patient, die es nach Aussage der westlichen Ärzte nicht mehr gibt und nach der sie sich zurücksehnen. Er stellt keine Fragen und akzeptiert alles, was Kai ihm sagt. Foday lässt die ausländischen Ärzte wehmütig an die Zeiten denken, bevor Gesetze verabschiedet wurden, die sie zwangen, ihre Arbeit in ein Geheimnis zu hüllen und so wenig wie möglich zu sagen. Sie lieben Afrika. Afrika ist voll von Gläubigen. Foday ist ein Gläubiger. Kai wünscht sich, Foday wäre ein bisschen weniger gläubig. Er schiebt Fodays Essenstablett zur Seite und lehnt sich mit dem Gesäß an die Fensterbank.
»Ich weiß, dass Mr Seligmann schon mit Ihnen gesprochen hat, aber ich wiederhole nur, was er gesagt hat, damit auch wirklich alles klar ist. In ein paar Wochen, wenn der Gipsverband endgültig runter ist, werden wir mehr wissen. Sie bekommen bis dahin einen neuen, wir verändern die Position des Fußes, sodass wir diese Sehne dehnen können. Dann bekommen wir eine genauere Vorstellung von der Sache und ein noch besseres Bild natürlich, sobald Sie mit der Physiotherapie angefangen haben. Wie fühlt sich der Fuß im Augenblick an?«
»Sehr gut, danke.«
Das ist ein Ausdruck von Dankbarkeit, wie Kai vermutet, als sei das Eingeständnis, dass man Schmerzen hat, ein Zeichen von Undankbarkeit und als könnte dies wiederum das Wohlwollen des Arztes aufs Spiel setzen. Die Schwestern scheinen gleichfalls der Ansicht zu sein, die Patienten hätten keine Ansprüche zu stellen, und sträuben sich dementsprechend dagegen, auch nur eine Kodeintablette herauszurücken. Auch weil sie jahrelang die kostbaren Vorräte hüten mussten.
»Wenn Sie Schmerzen haben, lassen Sie sich von der Schwester etwas geben.«
»Das werde ich machen, danke.«
»Gut.«
»Manchmal juckt mein Bein«, fügt Foday hinzu, als habe er einen kleinen Leckerbissen gefunden, mit dem er dem Herrn Doktor eine Freude machen kann.
»Das ist normal. Versuchen Sie, sich nicht zu kratzen.« Kai lächelt. »Was macht Zainab?«
»Oh.« Foday erwidert sein Lächeln. »Zainab hat mir wieder geschrieben. Mein Vetter hat mir gestern ihren Brief gebracht.
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