Lied aus der Vergangenheit
eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt an?«
»Nein.« Er schüttelt den Kopf. Kai plant zwar nicht, jemals zurückzukehren, aber ebenso wenig hat er vor, es ihr auf die Nase zu binden, schließlich hat die ganze Prozedur nur bedingt etwas mit Ehrlichkeit zu tun. Der Job der Botschaftsbeamtin besteht darin, ihn durch bestimmte Reifen springen zu lassen, sich darüber Gewissheit zu verschaffen, dass dieser Mann wirklich in ihr Land einreisen möchte, in einem Haus wohnen wie demjenigen, auf das sie selbst gerade eine Hypothek aufgenommen hat, in den Läden einkaufen, in denen sie einkauft, und seine Kinder auf die gleiche Schule schicken wie sie ihre. Sein Daseinszweck ist, ihre Träume zu bestätigen. Ärzte werden bevorzugt behandelt. Denn die Wahrheit – nur falls es eine Rolle spielt – ist, dass sie ihn brauchen. Doch Andrea hütet sich, irgendwelche Begehrlichkeit zu verraten. Es gibt jedes Jahr nur eine begrenzte Anzahl von Visa für Mediziner; diese Tatsache gibt ihr ein gewisses Druckmittel in die Hand, stellt ein bisschen von ihrer Autorität wieder her.
Kai schaut auf seine Füße. Ihm geht auf, dass er vergessen hat, Schuhe anzuziehen, und noch immer Flipflops trägt. An seiner Manschette ist ein Blutfleck. Auf der Straße vor der Botschaft wartet eine Menschenschlange auf das Ergebnis der Green-Card-Lotterie. Kai kam fünf Minuten zu spät zum Gespräch. Anschließend haben sie ihn vierzig Minuten warten lassen.
»Haben Sie Ihre vorläufigen Unterlagen dabei?«
Kai schiebt den Umschlag über den Tisch. Andrea Fernandez Mount öffnet ihn, zieht den Inhalt heraus und legt die einzelnen Dokumente nebeneinander auf den Tisch, wie eine Kriminalbeamtin, die Beweismittel sichtet. Geburtsurkunde, Reisepass, Schulzeugnisse, Hochschulabschlusszeugnis, Approbationsurkunde, alles in beglaubigten Kopien.
Nach einer Weile sagt sie: »Schön. Jemand von uns wird noch ein Interview mit Ihnen führen müssen, aber wir haben momentan eine Wartezeit von drei Monaten. Inzwischen können Sie sich dem ärztlichen Check-up und dem Sprachtest unterziehen. Ich kann Ihnen eine Liste der von der Botschaft anerkannten Arztpraxen geben.«
»Darf ich mich an meinem Krankenhaus untersuchen lassen?«
Sie wirft ihm einen kurzen Blick zu. »Wenn es auf der Liste steht. Wissen Sie schon, in welchem Bundesstaat Sie arbeiten werden?«
»Noch nicht sicher. Maryland, wahrscheinlich.«
»Sobald Sie ein Stellenangebot haben, werden Sie eine staatliche Approbation benötigen. Ihr Arbeitgeber müsste Ihnen dabei behilflich sein können. Manchmal wird der Bewilligungsantrag erst bearbeitet, wenn das Visum durch ist. Wir andererseits können Ihnen kein Visum ausstellen, solange Sie keine Approbation haben.« Sie zuckt die Achseln. »Ein bisschen wie in Catch- 22, aber so läuft’s nun mal, bis jemand was daran dreht. Teilen Sie denen mit, dass Ihr Visum in Bearbeitung ist. Nach Ihrem Interview werde ich in der Lage sein, Ihnen mehr zu sagen.« Sie schiebt ihren Stuhl zurück. »Ich glaube, wir wären so weit fertig.« Völlig unerwartet schaut sie auf und lächelt ihn herzlich an. »Sie können die Sachen in einer Woche wieder abholen.«
Kai steht auf. »Danke«, sagt er. Er ist nicht länger als fünf Minuten in dem Büro gewesen.
»Ich begleite Sie hinaus.« Jetzt, wo der amtliche Teil vorbei ist, wirkt sie wie ausgewechselt. Während sie ihn zur Tür begleitet, sagt sie: »Na ja, wer weiß, vielleicht laufen wir uns bei Gelegenheit über den Weg. Es ist ja schließlich eine kleine Stadt.« Sie reicht ihm die Hand. »Vielleicht könnten Sie mir sagen, was Ihr Lieblingsrestaurant ist. Es ist immer gut, eine Insiderempfehlung zu haben, wenn man irgendwo frisch angekommen ist.«
Kai ergreift ihre Hand, spürt den leichten Druck ihres Daumens auf seiner. »Tut mir leid, ich esse eher selten auswärts«, erwidert er, lächelt kurz und wendet sich ab.
Draußen auf der Straße geht er an der Menschenschlange vorbei. Die Männer sehen ihn mit der gleichen stummen Sehnsucht an wie die Patienten, die vor dem Krankenhaus darauf warten, hineingelassen zu werden, sich auszurechnen versuchen, wer er ist, ob er in der Lage sein könnte, ihnen zu helfen. Er sieht, dass sie seine Flipflops bemerken und wegschauen. Keiner von ihnen wird je Andrea Fernandez Mount gegenübersitzen.
Mittag essen geht Kai in Marys Restaurant, schon zum zweiten Mal in diesem Monat. Es ist noch früh, im Lokal ist nichts los. Sie sieht ihn in dem Augenblick, als er durch die
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