Lied aus der Vergangenheit
Tür kommt, und manövriert ihren Bauch zwischen den Tischen hindurch, um ihn zu begrüßen. Sie umarmt ihn und gibt ihm einen Kuss, drückt ihren Bauch gegen ihn. Er fühlt sich warm, weich und gleichzeitig fest an. Er verspürt einen plötzlichen Drang, sein Gesicht daran zu schmiegen.
»Gut siehst du aus, Mary«, sagt er.
»Danke.« Sie steht da und schaut ihn an, den Kopf zur Seite geneigt; ihr Lächeln ist von Zärtlichkeit getönt.
Sie weiß Bescheid, denkt er. Sie weiß über Nenebah Bescheid. Und da er den Ausdruck in ihrem Gesicht, dieses Mitleid, nicht erträgt, spricht er es als Erster aus.
»Du weißt es also schon. Na ja, es ist bestimmt gut für sie.«
Sie nickt entschieden. Sie zieht einen Stuhl heran, bedeutet Kai, sich ihr gegenüber zu setzen, und klatscht nach der Bedienung. »Was trinkst du?«
»Sodawasser«, sagt Kai.
»Sonst nichts?«
»Ich muss nachher operieren.«
»Bring ein Sodawasser und ein Guinness. Kalt.«
Sie schweigen, während das Mädchen die Getränke aufmacht, einschenkt, dann die Flaschen auf den Tisch stellt und wieder geht.
»Tja«, sagt Mary. »So etwas wie einen Weg zurück gibt es nicht.« Sie prostet Kai zu, er stößt an.
»Nein«, sagt Kai. »Immer nach vorn schauen, richtig?« Er atmet tief durch.
Vor Mary kann man wirklich nichts verheimlichen.
»Also dann«, sagt sie. »Erzähl mir, was es gibt. Wie kommt’s, dass ich dich neuerdings so oft zu sehen bekomme?«
Vielleicht hätte er ihr nichts erzählt, wenn sie nicht von Nenebah gesprochen hätten, aber jetzt liegt die Sache anders. Er erzählt ihr von seinem Entschluss ins Ausland zu gehen, von seinem Termin bei Andrea Fernandez Mount.
Als er ausgeredet hat, sagt sie: »Na ja, du und Tejani habt ja andauernd davon geredet. Grüß ihn schön von mir, ja? Und da du mir deine große Neuigkeit erzählt hast, sollst du jetzt meine hören.« Eine Pause. »Ich nehm meinen Sohn wieder zu mir. Ich hab meinen Eltern gesagt, dass es an der Zeit ist. Es reicht. Ich möchte, dass meine zwei Kinder bei mir aufwachsen. Zusammen. Das eine und dieses hier. Sie klopft sich auf den Bauch und lächelt ihn verhalten an. »Es ist also entschieden.«
Kai schüttelt den Kopf. »Das freut mich wirklich für dich. Wie alt ist er jetzt?«
»Übernächsten Monat ein Jahr. Ich möchte ihn zu seinem Geburtstag wieder bei mir haben.«
Eine halbe Stunde später verabschieden sie sich voneinander. Allmählich füllt sich das Lokal mit Mittagsgästen, Mary ist immer mehr abgelenkt, und Kai steht auf, um zu gehen. Als sie vortritt, um ihn zu umarmen, versetzt ihm ihr dicker Bauch wieder einen Stoß. Diesmal legt er die flache Hand unter die Wölbung, neigt den Kopf und drückt die Stirn dagegen, richtet sich auf und küsst Mary auf die Wange. »Passt ihr beide auf euch auf. Ich meine, ihr drei .« An der Tür hebt er die Hand und lässt sie wieder fallen. Sie hat sich schon abgewandt.
Oktober 1999 . Wie viele Kinder wurden in diesem einzigen Monat geboren. In Kais Augen ist Marys Fähigkeit zu verzeihen schlicht und einfach unfassbar. Marys Eltern hatten ihren Sohn mitgenommen, um ihn auf dem Dorf großzuziehen. Wer weiß, wie viele Kinder, die im selben Monat desselben Jahres geboren wurden, jetzt überall im Land unter ähnlichen Bedingungen aufwachsen? Kinder wie Marys Sohn, die eins gemeinsam haben. Sie kamen alle in der gleichen Periode zur Welt: neun Monate, nachdem die Rebellenarmee in die Stadt eingefallen war.
Freitagsgebet, und die Straßen sind menschenleer. Keine poda podas, keine Taxis. Ein Junge überholt Kai mit einer Ladung unreifer Kokosnüsse auf einem Kinderbuggy. Kai hält ihn an, kauft eine und wartet, während der Junge das obere Ende wegschlägt und dann aus dem Schalenfragment einen improvisierten Löffel zurechthackt. Kai schabt Stücke von Fruchtfleisch heraus, schaufelt sie sich in den Mund und betrachtet dabei die Gläubigen, die auf dem Weg in die Moschee an ihm vorbeikommen. Drei Geldwechsler, Fula in langen blassen Dschellabas und bestickten runden Kappen. Eine bejahrte Hadscha mit einem um den Kopf geschlungenen weißen Tuch. Ein Grüppchen von Büroangestellten, schwere schwarze Schuhe unter ihren Gewändern. Der Junge betrachtet Kai ebenso aufmerksam wie Kai die Passanten, als sei er eine Kuriosität auf dem Jahrmarkt. Die Sonne knallt herab, und Kai spürt, wie das Blut in den Venen seiner Kopfhaut pocht.
Er wendet sich zu dem kleinen Straßenhändler. »Willst du auch eine?«
Die Augen des
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