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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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Vögel gezählt. Möwen. Zwei Säbelschnäbler. Sahen so aus, als wären sie aus dem Himmel gespült worden. Recht malerisch auf ihre Weise; ich bin zurückgegangen und habe den Fotoapparat geholt.«
    Er hört ihr zu, und zum ersten Mal wird ihm bewusst, woher er seine Liebe zu Vögeln höchstwahrscheinlich hat. Er hatte nie viel darüber nachgedacht. Wahrscheinlich ging sie früher immer mit ihm spazieren und redete mit ihm über diese Dinge. Die Krankheit seines Vaters hat alldem ein Ende bereitet. Aber die Erinnerungen hatten sich zweifellos bereits in seinem Unterbewusstsein festgesetzt. Plötzlich wallt eine unendliche Dankbarkeit in ihm auf.
    »Und? Wie geht’s dir da unten? Wie läuft die Arbeit?«
    Sie unterhalten sich noch eine Weile. Sie hört zu. Am Ende sagt sie: »Na, mach weiter so. Wir sind alle sehr stolz auf dich.«
    Und Adrian sagt, ohne nachzudenken: »Warum kommst du nicht runter und besuchst mich? Es ist nicht so verrückt, wie es klingt. Na komm. Ich glaube, es würde dir gefallen. Auf jeden Fall wirst du es interessant finden.«
    »Ach, Schatz, was für eine wunderbare Idee! Aber meinst du nicht, ich bin ein bisschen zu alt dafür?«
    »Nein, meine ich nicht. Es gibt auch hier alte Leute, ich sehe die täglich.«
    Sie lacht.
    »Sag nicht Nein«, bittet er sie. »Sag, dass du darüber nachdenkst.«
    »Also gut, mein Lieber. Ich denke darüber nach.«
    Er legt auf. Ihm wird bewusst, dass sie nie über seine Gründe hierherzukommen gesprochen haben. Er war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie begreifen würde, dass seine Beziehung zu diesem Land durch sie kam. Er hat keine Ahnung, was sie tatsächlich für das Land empfindet, ob sie überhaupt etwas dafür empfindet.
    Wie kann ein Mann wie er an die Liebe glauben? Ein Mann, der gelernt hat, Emotionen auf ihre Grundbestandteile zurückzuführen? Winzige Mengen neurochemischer Substanzen: Serotonin, Oxytozin und Vasopressin. Er, der jede Nuance der menschlichen Seele als Anhaftungen, Komplexe, Krankheitsbilder und Störungen zu benennen, klassifizieren und diagnostizieren pflegt? Es existiert allerdings irgendwo eine »Skala der Liebe«, die ein Fachkollege erfunden hat. Andere haben die neurologischen Belohnungsbahnen des Gehirns identifiziert, die Stolperdrähte, die den Weg zur Liebe markieren. Und dann gibt es wieder andere, die sagen, die Liebe sei lediglich eine schöne Form von Wahnsinn.
    Adrian weiß es nicht.
    Über einem moosfleckigen Hof der Nachthimmel, so viele, viele Sterne. Neben ihm liegt, den Kopf auf seinem Oberschenkel, eine schlafende Frau. Den Augenblick ihres Übergangs von Wachen zum Schlaf registrierte er als ein momentanes Schwererwerden ihres Körpers, auf den sein eigener Körper mit minimalen Korrekturen reagierte.
    Er kam nicht auf der Suche nach Glück hierher. Er kam hierher, um ein anderer zu werden. Und in ihr hat er seinen Fluchtweg gefunden, in dieser schlafenden Frau, denn sie bietet ihm einen Weg aus sich selbst, fort von dem Menschen, der er hätte werden können. Durch puren Zufall ist sie in die Höhle seines Herzens gelangt und hat ihn ins Licht hinausgeführt.
    Wie kann ein Mensch, dessen Lebensaufgabe es ist, die Emotionen, ihren Ursprung und ihr Ende zu kartografieren – wie kann ein solcher Mensch an die Liebe glauben?
    Adrian weiß es nicht. Aber er tut’s. So einfach ist es. Er glaubt daran.
    Wieder.

47
    »Warum möchten Sie in den Vereinigten Staaten arbeiten?«
    Die Frau in der Visumabteilung der US -Botschaft hat Kai, seit er den Raum betreten hat, nicht mehr angesehen, sondern sich auf das akribische Studium des Schreibens konzentriert, mit dem ihm dieser Termin mitgeteilt wurde und das er, wie in selbigem Schreiben verlangt, zur Vorlage mitgebracht hat. Die Beamtin, eine Frau mit dem stumpfen Haar und der müden Haut einer Raucherin, starrt auf die Unterschrift am Ende des Briefes. Die Unterschrift, bei der es sich, wie er vermutet, um die ihre handelt: Andrea Fernandez Mount.
    »Nun?«, sagt sie. »Was ist der Grund, weswegen Sie in den Vereinigten Staaten arbeiten möchten?«
    Was ist die richtige Antwort?
    Um den amerikanischen Traum zu leben.
    Weil sie da sind, wie der Mount Everest. War es der Everest?
    »Um voranzukommen«, sagt er.
    Andrea Fernandez Mounts rechte Augenbraue hebt sich.
    »Beruflich, als Mediziner voranzukommen«, fügt er hinzu. »Ich möchte meine klinische Erfahrung vertiefen und zusätzliche Prüfungen ablegen.«
    Jetzt sieht sie ihn an.
    »Streben Sie

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