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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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Blickkontakt mit ihm vermieden, beunruhigt gewesen. Dann erklärte ihm Ileana, dass es als respektlos gilt, einem Älteren in die Augen zu sehen. Trotzdem, Adecalis Blick, der hektisch über den Fußboden huscht, als folge er einem im Zickzack krabbelnden Insekt, ist damit nicht zu erklären.
    »Erinnern Sie sich, wie wir in der Gruppe von dem besonderen Ort gesprochen haben, an den man sich immer zurückziehen kann, wenn man das Gefühl hat, dass einem die Dinge über den Kopf wachsen?«
    Adecali nickt.
    »Sind Sie gelegentlich dort gewesen?«
    In letzter Zeit hat es eine Reihe von Zwischenfällen gegeben, an denen Adecali beteiligt war, einen erst gestern in der Kantine. Nach seinen anfangs so vielversprechenden Fortschritten in den Gruppensitzungen ist eine Verschlechterung eingetreten.
    Adecali nickt und schüttelt dann den Kopf.
    »Was bedeutet das, ja oder nein? Sprechen Sie mit mir.«
    »Ich erinner mich nicht immer an das, was Sie uns gesagt haben.«
    »Schön, wollen wir das jetzt üben? Wann immer Sie sich an etwas Erschreckendes erinnern, an etwas, das Sie beunruhigt, können Sie selbst erreichen, dass Sie sich besser fühlen. Wie steht’s mit den Entspannungstechniken, den Atemübungen?« So bereitwillig die Männer auch zu den Sitzungen kommen, so schwierig ist es, sie dazu zu bringen, die Übungen für sich, allein, durchzuführen. Es ist eine Frage des Vertrauens. Die Männer beginnen zwar allmählich, Adrian zu vertrauen, doch seine Methoden sind ihnen nach wie vor unbegreiflich. Sie sind mit den Begriffen der Psychotherapie nicht vertraut. Und es ist auch mit Sicherheit nicht einfach, in den Krankensälen die erforderliche Ruhe und Stille zu finden.
    Adecali schüttelt den Kopf.
    »All diese Dinge werden Ihnen helfen, sich weniger angespannt zu fühlen und weniger Angst zu haben. Sie werden Ihnen helfen, mit Ihrer Situation fertigzuwerden. Sollen wir es hier zusammen versuchen?«
    Adecali nickt.
    Adrian steht auf und geht ans Fenster, schaut hinaus auf die aufgewühlte See. Ein Fischerkanu hält gerade, mal sichtbar, mal unsichtbar, aufs Land zu. Adecalis Knie hat aufgehört zu zucken. Adrian sagt: »Jetzt möchte ich, dass Sie tief einatmen … anhalten … ausatmen.«
    Er führt Adecali durch die Übungen, weist ihn an, die Fäuste zu ballen und zu öffnen, dann die Unterarme, die Schultern anzuspannen und zu lockern, den Kopf im Nacken zu rollen, die Gesichtsmuskeln, in denen sich Adecalis Tics größtenteils abspielen, anzuspannen und wieder zu entspannen. Zuletzt Brust, Beine und Füße. Adecali ist absolut fügsam, wie alle anderen Männer übrigens auch. Adrian findet es jedes Mal wieder verblüffend, selbst wenn er die sedierende Wirkung der Medikamente berücksichtigt.
    »Wie fühlen Sie sich?«
    »Ja, Sir. Ich fühle mich besser.«
    Adrian atmet tief durch. Er sagt: »Okay. Schließen Sie die Augen. Jetzt denken Sie an Ihren besonderen Ort. Wenn Sie möchten, können Sie mir davon erzählen.«
    »Der Ort, den ich ausgewählt habe, ist ein Baum in der Nähe des Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin.«
    »Sind Sie als Kind dort oft hingegangen?«
    »Ja, immer wenn meine Mutter mich verprügelt hat. Manchmal habe ich mich daruntergesetzt. Manchmal bin ich daraufgeklettert.«
    »Okay, ich möchte, dass Sie da sitzen und sich erinnern, was es für ein Gefühl war. Was konnten Sie von da oben aus sehen? Was konnten Sie hören?« Adrian schweigt eine Minute lang und beobachtet Adecali. Dann sagt er: »Jetzt möchte ich, dass Sie mir erzählen, wie es ist, wenn Ihnen eine solche Erinnerung kommt, wenn Sie sich an etwas Schlimmes erinnern. Sie beschreiben es mir, und dann reden wir darüber. Und dann werde ich Ihnen etwas beibringen, das Ihnen helfen wird, diese Erinnerungen daran zu hindern, einfach so zu kommen und Sie zu beunruhigen. Verstehen Sie?«
    »Ja, Sir.«
    Aus ihren ersten Sitzungen weiß Adrian inzwischen, woher Adecalis panische Angst vor Feuer kommt, ebenso seine Abscheu vor dem Geruch nach bratendem Fleisch. Adecali gehörte der Sensibilisierungseinheit der Rebellen an. Die Aufgabe der Einheit bestand darin, vor dem Einmarsch der eigentlichen kämpfenden Truppe in eine zur Eroberung vorgesehene Siedlung einzudringen und durch ihre Methoden sicherzustellen, dass die Bevölkerung, wenn es so weit war, auch kapitulieren würde. Die Strategie funktionierte. Sie hielt die Verluste in Grenzen – aufseiten der Rebellen, heißt das. Sie sparte Munition. Jede Operation war penibel geplant,

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