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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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drehte er sich um und sah zu, wie der Tuchmantel seiner Mutter in der Menschenmenge verschwand, zurückkehrte in die geschlossenen Mauern des Lebens mit seinem Vater. Seine Mutter, die beinah in einem fremden Land zur Welt gekommen wäre.
    Der Vogel schwebt schon seit geraumer Zeit auf der Stelle – so kommt es Adrian jedenfalls vor. Mit dem Pinsel trägt er die Farbe direkt auf das Papier auf, Blatt um Blatt bedeckt mit Darstellungen des Vogels. Jemand – Adrian weiß nicht mehr, wer – hat ihm einmal erklärt, dass Menschen, um fliegen zu können, Brustmuskeln von fast zwei Metern Stärke bräuchten. Jetzt fragt er sich, ob das wirklich stimmen kann. Oder ob das einer dieser vielen kleinen und großen Glaubenssätze ist, die man unhinterfragt aus der Kindheit ins Erwachsenenalter mitschleppt. Aber er wusste immerhin, dass diese Vögel so viel Energie zum Fliegen verbrauchten, dass sie täglich das Doppelte ihres Körpergewichts an Nektar trinken mussten. Ein solcher Aufwand, zum bloßen Zweck des Daseins! Manchmal hielten die Methoden der Natur keiner kritischen Prüfung stand – nur ihr Resultat: eine Schönheit, die den Rahmen der Logik sprengte.
    Neun Uhr. Er tunkt den Pinsel ins Wasser, tupft auf die Palette, streicht über das Papier. Sein Arbeitszimmer wartet auf ihn. Adrian malt weiter. Jetzt, in der prallen Sonne, erscheint das Gefieder des Vogels schwarz, obwohl es in Wirklichkeit von tiefstem Purpur ist, mit einem metallischen Glanz, zu dessen Wiedergabe ihm, wie er weiß, das technische Können fehlt.
    Einst war sein Leben von Eisenbahnfahrplänen bestimmt worden, von Gesprächsterminen, die nach exakt fünfzig Minuten endeten, gleich ob der Zeitpunkt für seinen Klienten (mittlerweile waren es »Klienten«, nicht mehr »Patienten«) gut oder schlecht war. Eine Stunde für das Mittagessen, gewöhnlich durch Verwaltungsangelegenheiten verkürzt. Heimfahrt mit einmal Umsteigen. Erst zwanzig Minuten Fahrt, dann noch einmal sieben. Vielleicht eine Abendgesellschaft, Stunden, in denen Gastlichkeit säuberlich in Schwarz auf Weiß gewährt und sechs Wochen im Voraus zur Post gebracht wurde. Nichts davon hier. In den Monaten vor seiner Ankunft hatte er sich, in einer Neuauflage jener verschwommenen Visionen seiner Jugend, Schlangen von Patienten vorgestellt – Patienten, keine Klienten –, und weil er auf die Bedürfnisse seiner Patienten eingehen wollte, würde sich sein Arbeitspensum von selbst ergeben, und er würde jeden Abend zufrieden und erschöpft ins Bett sinken. So hatte er sich das ausgemalt. Doch sie haben, mehr oder weniger gänzlich, aufgehört zu kommen. Und seine Kollegen, hat er den Verdacht, haben aufgehört, sich die Mühe zu machen, Überweisungen auszustellen. Das sind die Gedanken, die in seinem Hinterkopf wirbeln, wie die Schlieren der Aquarellfarben im Wasser. Er kam hierher, um zu helfen, und er hilft nicht. Er hilft nicht .
    Er wirft einen Blick auf die Uhr an der Wand über dem Regal. Am Ende der ungleichmäßigen Reihe von Taschenbüchern steht eine ordentliche Gruppe von dickeren Bänden: Trauma überwinden, das Handbuch der posttraumatischen Belastungsstörung, das von der WHO herausgegebene Mental Health of Refugees, die Internationale Klassifikation psychischer Störungen IC D 10, das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders .
    Er beginnt, Karmesinrot und Wasser zu mischen, fügt nach und nach Preußischblau hinzu.
    Während seiner klinischen Ausbildung hatte Adrian sein Interesse für Belastungsstörungen entdeckt. Als zwölfjähriger Junge, etwa gleichzeitig mit dem Einsetzen seiner Abenteuerfantasien, hatte er eine Zeit lang Bücher über den Ersten Weltkrieg gelesen. Die Geschichten, die er immer und immer wieder mit morbider Faszination las, waren diejenigen über sogenannte Kriegszitterer – an einer Kriegsneurose leidende Soldaten –, die vor die Wahl gestellt wurden, wieder an die Front zu gehen oder wegen Feigheit vor dem Feind erschossen zu werden. Einmal erzählte er ein paar dieser Geschichten seiner Mutter. Er erinnerte sich deutlich, dass sie dabei am Küchentresen stand und Karamellpudding machte. Im Gegenzug hatte sie ihm ihre Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg erzählt.
    Einmal, erzählte sie, als ihre Mutter gerade außer Haus gewesen war und eine Nachbarin auf sie aufpasste, hatte es Fliegeralarm gegeben. Die Nachbarin, eine Frau von Mitte vierzig, schon vom Alter und von Capstan-Zigaretten angegilbt, führte sie in den Luftschutzkeller.

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