Lied aus der Vergangenheit
Seine Mutter erinnerte sich, wie sie, an die Nachbarin geschmiegt, auf dem kalten Fußboden des Schutzraums saß, spürte, dass die Kälte von einer Flut von Wärme verdrängt wurde, glaubte, sie habe sich nass gemacht, bis ihr aufging, dass der Urin nicht von ihr, sondern von der Nachbarin stammte. Die Pfütze war langsam erkaltet. Während er in der warmen Küche saß, konnte Adrian den beißenden Gestank von Urin, den Backsteinstaub und die abgestandene Luft förmlich riechen. Später las Adrian, während des Zweiten Weltkriegs hätten ganze Teams von Psychiatern die Männer an die Front begleitet. Aber kein einziger für die Zivilisten in der Heimat, dachte er. Für die stellte niemand Psychiater ab.
Im letzten Monat von Adrians drittem klinischem Jahr verursachte eines Nachts ein Gasaustritt auf einer Bohrinsel hundertzwanzig Meilen vor der Küste von Aberdeen eine Explosion. Die Wucht der Explosion riss die Plattform entzwei, eine Flammensäule schoss in den nördlichen Himmel. Die auf der Bohrinsel eingeschlossenen Männer retteten sich vor den Flammen, indem sie an den Gerüstbeinen hinunterrutschten oder fünfzig und mehr Meter tief in die eisige, von einer brennenden Ölhaut überzogene See sprangen. Einhundertsechzig Männer starben. Die wenigen Überlebenden taten sich äußerst schwer, zu ihrem gewohnten Leben zurückzukehren. Sie suchten ihren Hausarzt auf und klagten über Albträume und Flashbacks, über Schlaflosigkeit, Panikattacken, über Stimmungsschwankungen, die zwischen Angst und Wut pendelten. Mehrere fingen an zu trinken, einer ließ kein Wasser mehr an sich heran, hörte auf, sich zu waschen, und versteckte sich in seinem Haus hinter verschlossenen Türen, ein anderer sah an seiner Frau und seinen Kindern die Gesichter seiner toten Kollegen, ein dritter kotete sich beim Anblick der See ein.
Adrian schrieb einen Artikel, in dem er sich für ein proaktiveres Handeln vonseiten der Fachärzteschaft nach größeren Katastrophen aussprach, und er wurde zur Veröffentlichung angenommen. Zu der Zeit diagnostizierten viele seiner Kollegen bei traumatisierten Patienten noch immer einen Nervenschock. Der Aufsatz brachte Adrian bescheidenen Beifall ein, als er von Anwälten zitiert wurde, die eine Schadensersatzklage gegen die Eigentümer der Plattform anstrebten. Was acht Jahre zuvor noch nicht als eine exakt definierte psychische Störung existiert hatte, erregte jetzt die Aufmerksamkeit von Fachkollegen. Adrian wusste, dass er sich darüber hätte freuen sollen. Stattdessen verspürte er eine innere Kälte und Besorgnis, als hätte er törichterweise den Verbleib von etwas Kostbarem verraten.
Die Jahre tickten vorüber. Adrian baute sich neben seiner Tätigkeit als leitender klinischer Psychologe an einem Londoner Krankenhaus noch eine gut gehende Privatpraxis auf. In den Augen seiner Mutter hatte er sich selbst übertroffen. Adrian jedoch hatte das Gefühl, dass seine Laufbahn bedenklich ins Wanken geriet.
Mittlerweile gab es neue Entwicklungen. Stressimpfung. Rewind-Technik. Ein Anwender der Neurolinguistischen Programmierung machte sich durch die Veröffentlichung einer Theorie einen Namen, die er als »Freiheitstechnik« bezeichnete. In Amerika entwickelte eine Psychologin eine Behandlungsmethode, die sie »Eye Movement Desensitization and Reprocessing« nannte. Einige Fachkollegen taten sie als Quacksalberei ab, aber Adrian fragte sich, ob das nicht wenigstens zum Teil daran lag, dass die Erfindung dieser Technik erstens auf eine Frau, die zweitens in Kalifornien praktizierte, zurückging. Adrian las alle verfügbaren Publikationen, einschließlich jener von Andersgläubigen. Die publizierten Resultate waren erstaunlich, und niemand, nicht einmal die Psychologin selbst, deren Name Francine Shapiro war, konnte sie bis ins Letzte erklären. Ohne Wissen seiner Kollegen nahm Adrian an einem Fortbildungskurs teil und wendete die Technik gelegentlich sogar bei seinen Privatpatienten an.
Doch obwohl er sich jede erdenkliche Mühe gab, mit den neuen Entwicklungen auf seinem immer dichter bevölkerten Fachgebiet Schritt zu halten, hatte Adrian das zunehmend stärkere Gefühl, dass der Impetus seiner Laufbahn versiegt war.
Als er also in einer Fachzeitschrift die Ausschreibung einer staatlich subventionierten Psychologenstelle im Ausland gesehen hatte, hatte er sich noch am selben Nachmittag per E-Mail bei der internationalen Gesundheitsorganisation beworben. Lisa hatte er davon nichts erzählt. Die
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