Lied aus der Vergangenheit
herum, kam ein, zwei Schritte näher und betätigte den Auslöser. Wieder ein Stück näher. Von der Mitte der Veranda zur Armlehne eines Sessels. Vom Sessel zur Kante des Couchtisches. Keiner von uns sprach ein Wort. Meine Handflächen hatten angefangen zu schwitzen, die Anstrengung, meine Pose beizubehalten und durch die Nase zu atmen, drohte, mich schwindlig zu machen. Ich atmete zwei- oder dreimal tief durch und zwang mich, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Saffia ihrerseits spähte durch den Sucher und schien an jedem Knopf und jedem Hebel des Kameragehäuses zu spielen. Falls sie Anzeichen von Befangenheit an mir bemerkte, verriet sie es jedenfalls durch nichts. Wenn sie mich anschaute, was sie häufig tat, war es so, als hätte sich ein Schleier über ihre Augen gelegt. Ein Anschauen, kein Sehen. Ich hatte mich in ein fotografisches Objekt verwandelt. Ich stellte fest, dass die Macht der Kamera auch enthemmend wirken konnte. Sie war jetzt so nah, dass ich, Ehrenwort, einen Duft von ihr witterte, eine Mischung aus ihrem Parfüm und einem warmen animalischen Geruch.
Irgendwo im Haus ging eine Tür auf. Ein Schatten glitt über die Wand, eine Tür schloss sich. Ich drehte mich um. Der Verschluss klickte ein letztes Mal. Saffia ließ die Kamera sinken und folgte meinem Blick.
»Meine Tante. Sie haben Glück, Elias«, lachte sie. »Sie sind in der Stadt geboren und brauchen sich nicht mit Verwandten abzufinden, die sich bei Ihnen einquartieren.« Damit stand sie auf und entfernte sich. Die Macht der Kamera war verflogen.
Eine Tante also, natürlich. Wie sehr wünschte ich, es wäre lediglich ein Dienstbote gewesen! Die Anwesenheit einer älteren Verwandten, eines Chaperons, verlieh meinem Besuch das Siegel der Wohlanständigkeit – der Grund, weswegen Saffia entspannt war. Ich vermutete, dass es ihr wichtig war, gut und richtig zu handeln.
Unterhalb von uns der Ruf von einem Minarett, dann von einem anderen, der Beginn der Abendgebete in der ganzen Stadt. Eine Zeit lang lauschten wir beide, ohne ein Wort zu sagen. Saffia stand auf, um ein, zwei Lampen über uns einzuschalten, und bot mir gleichzeitig ein weiteres Bier an. Gerade als ich antworten wollte, erschien eine alte Frau mit einer aufgerollten Matte unter dem Arm – die Tante mutmaßlich. Sie musterte mich schmaläugig und sprach, an Saffia gewandt, ein paar Worte in ihrer Sprache. Saffia antwortete. Ich habe keine Ahnung, was gesagt wurde. Die alte Frau entfernte sich mit langsamen Schritten unter fortgesetztem Gemurmel und zog sich dabei einen Schal von den Schultern über den Kopf. Am Ende der Veranda breitete sie die Matte auf dem Fußboden aus und begann, die zum Gebet gehörigen Bewegungen zu vollführen.
Es fing an zu regnen. Zunächst ein Prasseln, das schneller wurde, wie von laufenden Füßen. Dann das sanfte Stöhnen des Windes. Saffia beobachtete kurz den Himmel und schlug vor, sich nach drinnen zu setzen.
»Ich muss gehen«, sagte ich plötzlich. Ich stand auf und nahm meinen Hut von dem Stuhl, auf dem ich ihn abgelegt hatte.
»Warten Sie doch, bis der Regen aufgehört hat.«
Doch ich wusste, dass Julius keine Angst vor dem Regen hatte; ich wollte nicht, dass er mich hier vorfand.
»Ich muss wirklich gehen. Ich bin mit jemandem verabredet. Es war mir ganz entfallen.« Ich setzte meinen Hut auf.
Saffia bot sich an, mir einen Regenschirm zu holen. Augenblicklich sah ich in ihrem Angebot keinen bloßen Schirm, sondern einen Grund wiederzukommen. Fast hätte ich angenommen, schüttelte dann aber den Kopf. Möglicherweise würde sie erwarten, dass ich den Schirm einfach Julius mitgab. Natürlich würde sie das.
An der Tür reichte sie mir die Hand. Ihre Berührung war für mich fast schmerzhaft. Manche Frauen bieten einem kaum mehr als ihre Fingerspitzen an. Nicht so Saffia, sie schloss ihre Hand um meine, die Hitze schmolz in mich hinein, verteilte sich in meinem Blut und erfüllte es mit einem Aufflammen weißglühender Hoffnung.
Drinnen rief die Stimme ihrer Tante. Saffia löste ihre Hand von meiner.
»Kommen Sie uns bald wieder besuchen, Elias.« Uns .
Ich drehte mich um und floh in den Regen. Auf der Straße steckte ich die Hand tief in die Tasche, schloss die Finger um die Wärme ihrer Berührung, wie um einen Gegenstand, den ich zu verlieren fürchtete. Lange fragte ich mich, während ich ging, wie es sein mochte, diese Berührung jeden Tag zu spüren, wann immer man das Bedürfnis danach verspürte. Am Arm, am Nacken,
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