Lied aus der Vergangenheit
noch ein erinnertes Detail hinzu. Ich drehte und wendete jeden Moment, betrachtete ihn unter verschiedenen Blickwinkeln, forschte ihn nach neuen Bedeutungen aus. Ich fragte mich, ob sie den Film zum Entwickeln gebracht hatte, ob sie gerade, in diesem Augenblick, mein Bildnis betrachtete. Sie hatte Julius nichts von meinem Besuch erzählt, da war ich mir sicher. Und das bedeutete immerhin etwas. Welchen Grund konnte sie haben, ihm die Tatsache zu verschweigen, wenn nicht, dass sie wollte, dass es noch einmal geschähe?
So schwelgte ich, lustvoll, qualvoll. Ich war noch nie zuvor verliebt gewesen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Hoffnungen reicherten sich an, zerbrechlich und schwer wie Kristalle an einem Fasergespinst. Ich vergaß jede Vorsicht.
In der Zeit, die mir die Prüfungsaufsicht ließ, nahm ich die Gelegenheit wahr, meine Bestrebungen, den Dekan zu sprechen, weiterzuverfolgen. Was Saffia über meine Apathie gesagt hatte, traf nicht gänzlich zu. Ich hatte meinen Artikel »Gedanken zum Wandel der politischen Dynamik« zur Veröffentlichung eingereicht und zurückbekommen. Diese Woche ging ich zu seinem Büro und sprach mit seiner Sekretärin, die ihn wie das Orakel von Delphi bewachte. Sie gewährte mir eine kurze Audienz gegen Abend. Ich kam wohlvorbereitet, meine Argumente einstudiert.
Der Dekan war ein kleiner Mann, dunkelhäutig, schütter werdend und erfüllt von einer quecksilbrigen Energie, mit winzigen Händen und Füßen sowie hohen runden Gesäßbacken, die ihn leicht nach vorne kippen ließen, wodurch er den Eindruck erweckte, im Trab auf die Welt zuzugehen. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Stöße von Akten, jede mit einem Gummiband zusammengehalten. Der Schreibtisch selbst war eine gewichtige Angelegenheit, dunkles Holz mit dem Glanz des Nachgemachten, die Arbeitsfläche mit grünem Leder eingelegt, das wiederum einen verschnörkelten Goldrand besaß. Ein Briefbeschwerer aus grünem Onyx und ein Füller in passendem Ständer, ein Elfenbeinbrieföffner und ein Namensschild aus Messing, ähnlich dem an der Tür. Hinter dem Stuhl des Dekans stand ein wuchtiger Globus, der über dem Wendekreis des Krebses die Inschrift Typus orbis terrarum trug. Ein Schiff huschte, von einem pausbäckigen Wind angetrieben, mit vollen Segeln über den Äquator nach Afrika.
»Wie geht’s, wie steht’s, Cole?«
Ich erwiderte, alles sei bestens, so gut, wie man es erwarten könne.
»Gut, gut. Alles zu Ihrer Zufriedenheit?« Er klang wie ein Hotelmanager. Ich nickte und variierte meine vorige Antwort geringfügig.
»Gut, gut.«
Eine Pause. Er bot mir etwas zu trinken an. Ich nahm an. Er wirbelte auf seinem Schreibtischsessel herum und klappte die Oberseite des Globus auf. Darinnen befanden sich mehrere Karaffen, ein Eiskübel, eine Zange, Longdrinkgläser und Tumbler.
»Was möchten Sie?«
»Ich nehme das Gleiche wie Sie«, sagte ich. »Danke.« Ich hatte irgendwo gelesen, eine sichere Methode, seinen Chef zu beeindrucken, bestehe darin, den gleichen Drink wie er zu bestellen, als eine stillschweigende Bestätigung seiner eigenen Wahl.
»Hmm?«, sagte er, als hätte er nicht zugehört. Da er mir den Rücken zukehrte, konnte ich seine Miene nicht lesen. »Sagen Sie mir, was Sie gern hätten.«
Vielleicht doch besser, einen eigenen Kopf zu haben. »Dann nehme ich einen Whisky, bitte.«
Der Dekan fing umständlich an zu suchen, zog Karaffen heraus und stellte sie wieder zurück, nachdem er gelesen hatte, was auf den gravierten Silberplättchen stand, die um ihre Hälse hingen. Mehrere waren leer. Er machte den Eindruck eines Kindes, das sich mit einem neuen Spielzeug beschäftigt. Endlich hob er eine Karaffe heraus, in der zwei Fingerbreit einer goldfarbenen Flüssigkeit schwappten, zog den Stöpsel ab, erstarrte, wie von einem neuen verblüffenden Gedanken unterbrochen, für einen Moment, schüttelte leicht den Kopf, stöpselte die Karaffe wieder zu und stellte sie in den Globus zurück.
»Ich denke, ich lasse etwas Alkoholfreies kommen.«
Ich sagte: »Danke.«
Er nahm den Telefonhörer ab und rief die Sekretärin, die umgehend mit zwei Flaschen auf einem Tablett erschien, sie öffnete und jedem von uns eine reichte. Der Dekan führte die Flasche an die Lippen und sog nachdenklich daran. Ich tat es ihm nach.
»Wie finden Sie Ihr Arbeitszimmer? Fühlen Sie sich darin wohl?«
Wieder nickte ich. Zehn Minuten waren vergangen, und wir waren über den Austausch von Höflichkeiten noch nicht
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