Lied aus der Vergangenheit
mit demselben Stift, aber von einer anderen Hand geschrieben.
PS: Das ist Helena, TJ s Freundin. TJ erzählt mir dauernd von Ihnen. Das ist wahr. Ich freue mich sehr darauf, Sie eines Tages kennenzulernen .
Kai fängt an zu schreiben und hört wieder auf. Es ist jetzt zwei Jahre her, und noch immer spürt er Tejanis Abwesenheit, spürt sie in seiner Seele, ein Sehnen, kalt und hohl. Als Tejani nach Amerika aufbrach, hatten sie am Fährhafen die Fäuste aneinandergeschlagen und so getan, als würde Tejani nur für ein paar Wochen wegfahren. »Wenn du da bist, schick mir eine Kleinigkeit«, hatte Kai gescherzt. Dann hatten sie sich voneinander abgewandt. Kai dachte nicht weiter als bis zur nächsten Stunde, zum nächsten Tag. Er gestattete sich nicht, war unfähig, weiter zu denken. Tejani aber konnte es. Er war gegangen.
Sie hatten immer vorgehabt, zusammen auszuwandern.
Am Ende schreibt er einen Absatz, in dem er Tejani zu seinem bestandenen Examen gratuliert, zu der Tatsache, dass er seinem ehrgeizigen Ziel, der medizinischen Elite anzugehören, einen Schritt näher gekommen ist.
Er legt den Stift hin und trinkt einen Schluck Kaffee, unschlüssig, wie er den Brief beenden soll. Er sollte einfach Tejanis Angebot annehmen, seinen Lebenslauf einschicken. Der Kaffee ist lauwarm. Er trinkt ihn hastig aus, es ist eine halbe Stunde vergangen. Er nimmt die drei Briefe, steckt sie ein und verlässt die Wohnung.
Minuten später betritt er den Krankensaal. Eine Schwester kommt ihm mit einer Nierenschale voller Tupfer und einer Pinzette entgegen. Sie nickt ihm zu.
»Er hat gerade die Augen geöffnet. Ich wollte ihm eben etwas zu trinken holen. Dort drüben.«
»Hallo, Dr. Mansaray.« Fodays Stimme ist belegt.
»Wie geht’s?«
»Sehr gut, danke, Herr Doktor.« Ein kleines Grinsen. Kai sieht, wie schwer es Foday fällt, die Augen offen zu halten.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass alles gut gegangen ist. Also Daumen drücken, ja?«
»Ich werde beten.«
»In ein, zwei Tagen schauen wir uns das Bein an, nur um uns zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Darf ich?« Kai zieht das Laken herunter, sodass Fodays Bein unbedeckt ist. Der junge Mann stemmt sich mit seinen kräftigen Armen und Schultern hoch. In dieser Haltung schaut er hinunter auf seine Beine, streckt eine Hand aus und berührt den Gipsverband. »Und fürs Erste besorgen wir Ihnen einen Rollstuhl.« Mit den Armen, da hat Kai überhaupt keinen Zweifel, wird sich Foday überallhin rollen können.
»Ja, Herr Doktor. Gott segne Sie.«
Über dem Bett ist ein Foto an die Wand gepinnt, eins, das Kai schon kennt. Ein Polaroidbild, kurz nach Fodays Einweisung aufgenommen. Es zeigt seine Beine, von der Taille abwärts, vor der ersten Operation. Die vom Knie schräg abstehenden schwachen Waden, die zum Schienbein hin verzogenen Füße. Nicht eine, sondern zwei angeborene Fehlbildungen der unteren Gliedmaßen. Blount-Syndrom und Knickfuß an beiden Beinen, dazu am linken Bein eine dislozierte Kniescheibe, die sich seitlich verschoben hatte. Oberhalb des Knies dagegen waren die Schenkel so muskulös wie bei einem Sprinter. Thorax und Arme waren die eines Athleten. So unglaublich es klingt, Foday konnte gehen.
Also vier OPs. Zwei, um die Waden zu begradigen. Zwei, um die Fußknöchel zu korrigieren. Und dann die monatelange Physiotherapie. Kai hat keinen Zweifel, dass Foday sie durchstehen wird. Er ist ein Kämpfer.
Ein kürzlich aus Genf eingetroffener Chirurg war gerade vorbeigekommen, als Kai die Röntgenbilder betrachtete, und war neugierig stehen geblieben. Er war gleichzeitig erschüttert und begeistert gewesen.
»Wissen Sie, wie oft wir so etwas in der Schweiz zu sehen bekommen?«
»Wie oft?«, fragte Kai höflich nach.
»Nie. Nicht ein Mal in meiner ganzen Laufbahn. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie operieren. Ich würde gern zusehen. Wenn ich darf?« Und er hatte sich leicht verbeugt, als wäre Kai der Ranghöhere von den beiden.
Der Krieg war, wie man es im Ausland auch sehen mochte, weder ideologisch noch taktisch mittelalterlich gewesen, lediglich waffentechnisch. Es gab von Anfang an zwei Klassen von Patienten. Es gab die einheimischen Soldaten und die ausländischen Blauhelme, meist durch Gewehrkugeln verletzt, manchmal auch mit Granaten- und Mörserwunden. Die zweite Klasse machten die Kleinbauern aus, diejenigen, die es aus ihren Dörfern hierher schafften und ein dickes H auf ihre Einweisungskarte gemalt bekamen. Unbewaffnet und arm, wie sie
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