Lied aus der Vergangenheit
die Frau miteinander. Die Frau wohnte nicht in der Stadt, erinnert er sich, denn wenn es nichts anderes zu sagen gab, redeten sie über den Zustand der Fernstraßen. Das ist alles, woran er sich erinnert. Viele Jahre sind seither vergangen. So viel hat sich geändert. Die Leute sagen, dass die Frau besessen ist.
»Ist das auch Ihre Meinung? Dass sie besessen ist?«
Der Mann steht von dem Sockel auf, um Adrian zu antworten: angestrengte, langsame Bewegungen.
»Ich habe sie hier schon mal gesehen. Manchmal, heißt es, rufen die Geister nach bestimmten Menschen. Besessen ist sie nicht, aber sie ist über die Grenze, ja. Und das macht manchen Angst. Ich hab keine Angst, weil ich sie vorher kannte. Aber die Leute sind nicht mehr so, wie sie mal waren, sie sind ängstlicher.«
Der Mann begleitet sie zurück ins Treppenhaus. Adrian bedankt sich und gibt ihm die Hand. Salia beugt sich vor und drückt ihm ein paar Geldscheine in die Hand, und der Mann nickt und schließt die Finger darum. Stumm sieht er ihnen nach.
Draußen machen sie sich auf den Rückweg durch die Grelle und den Staub. Salia geht, zwei Schritte vor Adrian, wie ein Tänzer, Schultern gerade und Kinn hochgereckt, scheint über dem Boden zu schweben. Adrian fragt sich, wie er ein Gespräch mit ihm anfangen könnte.
»Was genau meinte er, als er sagte, sie sei ›über die Grenze‹?«, fragt er.
Salia dreht sich um und sieht ihn an. »Warum machen Sie sich wegen dieser Frau Gedanken?«
Aus dem Mund eines Psychiatriepflegers kommt Adrian die Frage absonderlich vor. Eine der Wärterinnen hat ihn das Gleiche gefragt, heimlich schmunzelnd, während sie den Krankensaal entlangwatschelte und Desinfektionsmittel auf den Fußboden spritzte, und ihr Verhalten hatte angedeutet, dass sein Interesse etwas leicht Ungehöriges habe. Warum ausgerechnet diese eine? Warum nicht?, möchte er am liebsten zurückfragen. Aber ihm fällt keine andere Antwort ein als die Wahrheit, nämlich dass außer dem Patienten im Krankenhaus, dem sterbenden Elias Cole, sie das Einzige ist, was er hat. Es passt ihm nicht, sich rechtfertigen zu müssen. Trotzdem, Salia ist Attilas Gefolgsmann.
»Wollen wir uns was Kaltes holen?« Adrian zeigt auf einen Händler mit einem Eiskasten, der unter einem Baum auf seinen Hacken kauert. Er muss in den Schatten, raus aus dieser unbarmherzigen Hitze. Salia nickt und verlangt gehacktes Eis, wozu er einen schreiend gelben Sirup auswählt. Adrian bittet um eine Cola und kramt in seinen Taschen nach Münzen. Während Salia sich gehacktes Eis in den Mund löffelt, wiederholt Adrian seine Frage.
»Das ist so eine Redensart«, antwortet Salia. »Wenn ein Geist in einen Menschen eindringt, bringt er ihn manchmal dazu, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, was die Leute verrückt nennen. Er versuchte also, Ihnen zu sagen, dass die Frau sich verrückt verhalten hat, als er sie gefunden hat. Das ist alles.«
Später, in Ileanas Zimmer, liest Adrian die Aufzeichnungen über Agnes noch einmal aufmerksam durch. Dann starrt er auf die Karte des Landes, die an der Wand hängt. Er vergleicht das Aussehen der Wörter, die Abfolge von Vokalen und Konsonanten, und es gelingt ihm, die in Agnes’ Akte genannten fremdartigen Ortsnamen einen nach dem anderen zu lokalisieren. In einem Aschenbecher auf Ileanas Schreibtisch findet er eine kleine Anzahl farbiger Reißzwecken, außerdem drei Ohrringe und eine Sicherheitsnadel mit einem daran geknoteten Stoffband; die alle verwendet er, sticht sie durch das Papier. Auf diese Weise markiert er jeden einzelnen Ort, einschließlich desjenigen, an dem er selbst Agnes, in seiner ersten Woche im Land, auf der Straße sah. Er tritt zurück und betrachtet gerade prüfend sein Werk, als Ileana hereinkommt und sich, nach Rauch und Parfüm duftend, neben ihn stellt.
»Kunsttherapie?«
Adrian lächelt. »Raten Sie mal.«
»Hat was mit Ihrer Patientin zu tun, stimmt’s?«
»Ja.«
Sie starrt auf die Landkarte, schüttelt dann den Kopf. »Sagen Sie’s mir.«
»Das sind die Orte, an denen sie vor jeder Einweisung jeweils aufgefunden wurde.«
»Ja leck mich am Arsch!«, sagt Ileana.
Seite an Seite stehen sie da und starren auf Agnes’ Wanderungen, nachgezeichnet in Farben und Flitter.
Agnes schläft. Beide Hände unter der Wange, ihr Körper zu einem Fragezeichen gewunden. Sie liegt vollkommen still, keinerlei Liderflattern, ein traumloser Schlaf. Adrian steht am Fußende ihres Bettes. Er kann gerade eben ihre Atmung
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