Lied aus der Vergangenheit
waren, rechtfertigten sie einfach nicht die Vergeudung einer Patrone. Sie waren die Opfer von Angriffen mit Macheten und Entermessern. Die persönliche Kurzschrift des Arztes passte sich den Umständen an. H. Hackwunde . Kai sammelte Hunderte von Stunden Erfahrung bei Reparaturarbeiten, steppte Muskelschichten, nähte Haut, flickte Löcher mit Stücken, die er anderswo entnahm. Chirurgische Handarbeit. In der Spätphase des Krieges rückten die Rebellen auf die Stadt vor, und als ihre Vorhut kamen die ersten Amputierten an. In erster Linie befassten sich die Chirurgen damit, Leben zu retten: Sie schnitten nekrotisches Fleisch weg, reparierten die »Häckseljobs«, wie sie früher, in Friedenszeiten, die Arbeit weniger guter Chirurgen bezeichnet hatten. Es gab allerdings auch einige wenige Fälle, wo die Angreifer entweder gnädig oder stümperhaft gewesen waren, wo es möglich gewesen war, eine Sehne wieder anzunähen und das Gehvermögen wiederherzustellen. Später führte ein Team von Chirurgen, zu dem auch Kai gehörte, den seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gebräuchlichen Krukenberg-Eingriff durch; sie bastelten aus den Muskeln und den zwei getrennten Unterarmknochen eine stumpfe Greifzange: eine Hand. Hässlich, das sicher. Aber Kai hatte einen Mann gesehen, der wieder imstande war, beim Wasserlassen seinen Penis zu halten, eine Mutter, ihre Brustwarze an den Mund ihres Kindes zu führen. In diesen Monaten der Wirren hatte Kai eine neue, dauerhafte Liebe entdeckt: die orthopädische Chirurgie. Bereits als Nachwuchschirurg hatte er schon mehr gesehen und zurechtgeflickt als manch ein Facharzt mit dreißigjähriger Berufserfahrung.
Sechs Uhr. Kai geht zum Männerumkleideraum, wo er seine OP -Kluft gegen Straßenkleidung tauscht. Jetzt hat er Hunger. Auf dem Heimweg kauft er bei den Straßenhändlerinnen Okra, Zwiebeln, Paprikaschoten und Räucherfisch. Kein Fleisch, zu spät für den Schlachter. Er winkt ein Taxi heran, ein Sammeltaxi, und erkundigt sich nach der Route. Der Fahrer will den Weg über die Halbinselbrücke nehmen. Kai lässt ihn ziehen, hält das nächste Taxi an.
Als er die ansteigende Straße entlang auf das Haus zugeht, sieht er Abass über das Geländer der Veranda hängen. Kai hebt die Hand. Der Junge flitzt die Treppe herunter. Als Kai die Tür im Eisentor öffnet, stürzt sich das Kind auf ihn und rammt ihm sein ganzes Gewicht in den Magen, schlingt ihm die Arme um die Taille. Kai war darauf gefasst gewesen; trotzdem nimmt ihm der Aufprall fast den Atem.
»Hey, Mann. Dafür bist du schon fast zu groß. Wie läuft’s?«
Ohne eine Antwort zu geben, zieht das Kind Kais Arm um sich und vergräbt sein Gesicht in seiner Seite. So gehen sie hinauf zum Haus.
»Ist deine Mutter zu Haus?«
»Ja. Aber sie ist noch mal gegangen. Ich soll’s dir sagen. Zu Yeama«, antwortet Abass mit seiner tiefen Kleiner-Mann-Stimme.
Yeama ist eine Nachbarin, deren Schwägerin im Kindbett gestorben ist. Yeama ist mit dem Säugling sitzen geblieben. Der Vater, der beim Militär an der Nordgrenze dient, weiß vorerst weder von der Geburt seiner Tochter noch vom Tod seiner jungen Frau. Abass’ Mutter, Kais Cousine, besucht Yeama regelmäßig in ihrem winzigen Haus und bringt ihr Babykleidung und dosenweise Muttermilchersatz. Das kleine Mädchen war ein Frühchen: Kai rechnet nicht damit, dass sie allzu lange überleben wird.
»Wie hungrig bist du? Kannst du noch mal essen?«
Abass nickt.
»Gut«, sagt Kai und drückt die magere Schulter des Jungen.
In der Küche sitzt eine Tante in der Ecke auf einem Hocker, die Hand unterm Kinn, und nickt im Schlaf vor sich hin. Als sie ihn kommen hört, grunzt sie und steht auf, um ihm behilflich zu sein, aber Kai wehrt sie sanft ab, und sie schlurft davon, noch halb schlafend, und rafft ihre lappa um sich. Sie haben ihm bestimmt etwas im Topf übrig gelassen, aber heute hat er Lust zu kochen. Er packt seine Einkäufe auf der Arbeitsfläche aus. Er schneidet die Zwiebeln in Scheiben, hackt jede Okraschote in ein Dutzend ringförmige Stücke. Er liebt die Routine und den Rhythmus des Kochens. Es beschert ihm ein Gefühl des Friedens, einen Teil seines Bewusstseins aussperren zu können, genau so wie es im OP-Saal war, als er Foday den Gipsverband anlegte, oder wie es manchmal ist, wenn er eine Wunde näht und Stich für Stich die Fadenenden verknotet. Operieren gewährt ihm eine Privatsphäre, ermöglicht ihm einen Rückzug aus der Welt an einen Ort, der zwar seine eigenen
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