Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
Vom Netzwerk:
sie aussahen. Doch aus Gehorsam ihrem Vater gegenüber verließ sie das Haus mit unbemaltem Gesicht. Die Kosmetika musste sie aus eigener Tasche bezahlen; aus irgendeinem Grund beschwichtigte Alfred dieses Wissen.
    Agnes war nie während der Geschäftszeiten im Kaufhaus gewesen, aber gelegentlich ließ Naasu sie, nachdem es geschlossen hatte, durch die Hintertür herein. Sie ging durch die menschenleeren Hallen und starrte die Auslagen an, die importierten Stoffe, die Schuhe mit hohen, dünnen Absätzen, die blassen Kleiderpuppen mit rosa Schmollmündern. Sie fasste alles an, ausgenommen die Puppen, die ihr aus irgendeinem Grund nicht geheuer waren. Naasu lachte und zeigte ihr den Abstellraum, wo die körperlosen Arme und Beine zu Haufen aufgetürmt lagen.
    Ein anderes Mal flog ein Vogel herein. Er schwirrte durch die weiten Durchgänge von Saal zu Saal und ließ sich auf der Schulter einer Kleiderpuppe nieder.
    Naasu arbeitet nicht mehr im Kaufhaus, erklärt Agnes ihm. Sie selbst ist seit Jahren nicht mehr dort gewesen.
    Sie verstellt sich nicht, das kann Adrian erkennen. Im Gegenzug widerspricht er ihr nicht, sondern sagt: »Erzählen Sie mir von der ersten Wanderung, die Sie gemacht haben, der ersten, die Sie sich erinnern, gemacht zu haben, ohne das vorgehabt zu haben.«
    Es war vielleicht vor einem Jahr. Wieder Harmattanzeit. Es begann genauso wie jedes einzelne Mal seither, mit Träumen, die so real waren, dass sie ihnen nicht entfliehen konnte. Als sie am Morgen aufwachte, waren ihre Fußsohlen schmutzig; offenbar war sie hinaus auf die Toilette gegangen und hatte ihre Sandalen vergessen, obwohl sie sich gar nicht daran erinnern konnte. Die Träume lösten Kopfschmerzen aus, und sie erinnerte sich, am Morgen mit einem unscharfen Fleck im Zentrum ihres Gesichtsfelds aufgewacht zu sein. Dann wurde plötzlich alles schwarz, sodass nur ein Kreis von Licht übrig blieb. Sie schickte das Mädchen los, Medizin kaufen, weil Naasu nicht zu Hause war, sie war zur Hochzeit einer Klassenkameradin in eine andere Stadt gefahren, sie war seit zwei Tagen fort und würde erst in zwei weiteren zurückkommen.
    Diesen ganzen Vormittag lang hatte Agnes das starke Gefühl, dass irgendetwas passieren würde. Sie ging an die Tür, um zu sehen, ob das Mädchen von der Apotheke zurückkam. Doch selbst nachdem das Kind zurückgekehrt war, ertappte sich Agnes dabei, dass sie immer wieder aufstand und zur Tür hinaussah. Sie zwang sich, sitzen zu bleiben. Angst schlug in ihrer Brust wie die Flügel eines Vogels, wie der Vogel, der nicht mehr aus dem Kaufhaus herauskam. Sie rief das Kind zu sich, und gemeinsam machten sie sich an die Vorbereitung des Abendessens. Zum Druck in Agnes’ Schädel kam noch ein Geräusch wie von rauschender Luft hinzu. Als sie dem Kind Anweisungen gab, klang ihre eigene Stimme so, als wäre es jemand anders, der von nebenan rief. Sie wünschte, Naasu wäre da. Sie versuchte, die Geräusche auszusperren und sich auf das zu konzentrieren, was sie gerade tat, aber die ganze Zeit hatte sie das Gefühl zu träumen, als wären die Momente, zusammen mit dem Kind am Herd zu stehen, ihren eigenen Händen dabei zuzusehen, wie sie Fleisch in Scheiben schnitten, Teil des Traums.
    Sie erinnert sich nicht, das Haus verlassen zu haben. Später schilderte das Kind, was geschehen war. Agnes hatte es am Nachmittag in den Ort geschickt, damit sie zu Naasus Heimkehr Obst kaufte. Die Kleine tat wie geheißen. Sie stand gerade auf dem Markt, als sie Agnes hastig in Richtung der Hauptstraße gehen sah. Das Mädchen dachte, Naasu komme vielleicht früher zurück und Agnes wolle sie vom Bus abholen.
    Naasu fand Agnes fünf Tage später. Sie folgte den Schritten ihrer Mutter, fragte in jedem Dorf nach ihr. In einem größeren Ort hatte jemand – eine angeheiratete Nichte – Agnes erkannt und sie angesprochen, doch Agnes schien sich nicht an sie zu erinnern. Sie zeigte Naasu, welche Richtung Agnes eingeschlagen hatte.
    Agnes hat fragmentarische Erinnerungen an diese Tage. Doch sie kann Adrian nicht sagen, ob diese Dinge wirklich geschehen oder Teil ihrer Träume gewesen waren. Sie erinnert sich, einen Fußpfad eingeschlagen zu haben, gesehen zu haben, wie der Staub vor ihr einen Wirbelwind bildete, der dann davontrudelte. Eine Nacht schlief sie in einer Landarbeiterhütte. An einem anderen Tag betrachtete sie die Wolken, die über den Himmel zogen, und bemerkte, dass sie beide dieselbe Richtung hatten, aber als Naasu sie fragte, wohin

Weitere Kostenlose Bücher