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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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ihm gekommen waren, möglicherweise etwas in der Art abgespielt hatte und ein anfängliches Missverständnis ohne vernünftigen Grund eskaliert war.
    Ich nickte dem Posten an der Straßensperre zu. Er lockerte den Griff um das Seil und ließ den Schlagbaum hoch.

20
    Ein paar kennt er beim Namen.
    Lamin sagt, er habe früher in einer Fabrik in Deutschland Ostereier bemalt. Er streut gelegentlich ein deutsches Wort ein: Frau. Haus. Osterei . Diagnose antisoziale Persönlichkeitsstörung. Attila, erzählt Ileana Adrian, glaubt nicht, dass Lamin je in Deutschland gewesen ist. Lamin macht Fortschritte, Attila hat verfügt, dass er vom Bett losgekettet werden darf, die Ketten bleiben an seinen Knöcheln und Handgelenken. Lamin watschelt im Sonnenschein umher, die Masse seiner Ketten zusammengerafft und über einen Arm drapiert, wie die Schleppe einer Braut. Als er Adrian sieht, hebt er die freie Hand zum Gruß.
    Im Bett neben Lamin liegt Kapuwa. Adrian hat seine Krankengeschichte gelesen. Für eine Schüssel Reis täglich zwölf Stunden Arbeit in einer Diamantmine. Abends betäubten die Männer ihren Hunger mit Ganja. Die Minen wurden von Soldaten der Rebellenarmee überrannt, für die sie ebenso hart für noch weniger Essen arbeiten mussten. Kapuwa floh, doch seinen Verstand ließ er zurück. Seine Angehörigen holten einen Heiler, damit er ihn ein Mal pro Woche wusch und Gebete rezitierte. Seine Angehörigen fürchteten sich vor seinen Gewaltausbrüchen und hielten ihn im Hof an einen Bambuspfahl gekettet.
    Borbors Bett ist das in der Mitte der Station. Borbor ist ein geistig zurückgebliebener Epileptiker. Er kehrt Adrian den Rücken, bückt sich und wackelt mit dem Hinterteil, das Adrian durch den Riss in dessen Hose klar und deutlich sehen kann. Adrian tut so, als sei er entsetzt, Borbor lacht und klatscht in die Hände. Die anderen Patienten beschweren sich, Borbor sei verrückt. Adrian hat den Verdacht, dass Borbor nicht so dumm ist, wie er andere glauben lassen möchte.
    Und dann gibt es noch den Professor. Einen in jeder Anstalt, denkt Adrian. Blödsinn und Brillanz, im Irrsinn vereint. Der Professor ist manisch-depressiv, die Wände um sein Bett sind mit Kreide vollgekritzelt: Poesie, Nonsens, Obszönitäten. Der Vater eines der neuen Patienten, ein religiöser Mann, hat sich beschwert. Der Professor trägt keine Ketten und darf sich innerhalb der Anstalt frei bewegen. Adrian erkennt ihn als den Mann wieder, mit dem er am ersten Morgen am Eingangstor gesprochen hat.
    Diese vier sind Langzeitinsassen. Dann gibt es die anderen, die kommen und gehen. Sie liegen den ganzen Tag im Bett, schlafend oder in verschiedenen Stadien des Entzugs. Nachts beunruhigt ihr Delirieren die anderen Patienten. Gelegentlich gibt es Krawall. Viele von ihnen waren früher Kämpfer und standen sich als Feinde gegenüber. Jetzt liegen sie Seite an Seite. Der junge Mann, den Adrian angebracht hat, ist einer von ihnen. Sie kommen und gehen. Kommen und gehen.
    Heute rief Lisa in aller Früh an, um ihn an Kates Zulassungsprüfung für die Oberschule zu erinnern. Adrian legte auf und rief zehn Minuten später zurück, um mit Kate zu sprechen. Falls seine Tochter überhaupt nervös war, ließ sie sich nichts anmerken. »Sehr lieb von dir, dass du anrufst, Daddy.« Ein bedächtiges, eher biederes Kind, keine 2800 Gramm bei der Geburt, zierlich und zerbrechlich wie Porzellan. Lisa war das erste Jahr zu Haus geblieben, um für sie zu sorgen, und dann ein zweites, dann ein drittes, woraufhin alle Sprüche von einer Rückkehr ins Berufsleben erstarben. Manchmal, so schien es Adrian, fiel es ihm schwer zu erkennen, wo seine Frau aufhörte und seine Tochter anfing, als hätte die Geburt es nicht vermocht, sie voneinander zu trennen. Insgeheim wünschte er, Lisa würde wieder anfangen zu arbeiten. Inzwischen war Kate zu einem in Denken und Handeln gemäßigten Kind herangewachsen, dessen Übergang ins Erwachsensein nahtlos vonstattenzugehen schien, ohne all die unschönen Schwierigkeiten, die andere Kinder durchlebten.
    Adrian wünschte Kate viel Glück. Er wollte ihr gerade vom Honigsauger erzählen, als sie ihn unterbrach. »Ich muss jetzt gehen. Sonst komme ich zu spät.« Manchmal verunsicherte ihn ihre Ausgeglichenheit, als hielte sie seine Bemühungen für unzureichend. Das war nicht immer so gewesen. Mit zwei hatte Kate häufig Albträume gehabt und darauf bestanden, dass er – nicht Lisa – an ihrem Bett saß, bis sie wieder einschlief.

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