Lied aus der Vergangenheit
Ade war einer der Letzten gewesen, die die Party verlassen hatten; als er zu Hause ankam, hatten sie auf ihn gewartet. Von Ades Haus fuhren wir in aller Eile zu Kekuras Adresse. Dort fanden wir weder Kekura selbst noch Augenzeugen mit Informationen über ihn. Im weiteren Umkreis von Saffia und Julius’ Haus befanden sich drei Polizeiwachen, und wir suchten sie eine nach der anderen auf. Der diensthabende Beamte in der ersten Wache versuchte Saffia zunächst damit zu beruhigen, vermisste Ehemänner würden sich in aller Regel wieder einfinden. Saffia beschrieb die Männer, die an dem Morgen vor ihrer Tür gestanden hatten. Da warf er ihr einen Blick zu, einen schmalen, neugierigen, starren Blick, zuckte die Achseln und kehrte uns den Rücken. Ich fasste Saffia am Arm und zog sie weg.
Wir fuhren durch menschenleere Straßen. Kaum zu Hause, begann sie wieder zu telefonieren. Wir erfuhren nichts Neues. Auch im Radio nicht, nur das übliche Sammelsurium von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen. Sämtliche Nachrichten betrafen die erfolgreiche Mondlandung.
Saffia sagte mir, ihre Tante sei nicht da. Ich ging in die Küche und fand etwas zu essen, das vom vorigen Abend übrig geblieben war. Es pochte wieder in meiner Schläfe, und ich trank mehrere Glas Wasser. Ich ging mit etwas kaltem olele und einer Kochbanane ins Wohnzimmer zurück.
Zu dem Zeitpunkt bestand, wenigstens in meinen Augen, noch immer die Möglichkeit, dass Julius jeden Augenblick durch die Tür spaziert kommen und die ganze Sache in einen großen Witz verwandeln würde, in eine Geschichte, die er über sich erzählen könnte. Erstaunlicherweise erwog ich sogar mehrere Minuten lang völlig ernsthaft die Theorie einer Entführung, dann die Idee, das Ganze sei lediglich ein von Kekura und Ade ausgeheckter Streich. Es lag zweifellos an der bizarren Natur des vergangenen Abends: die Mondlandung, mein eigener schmählicher Absturz, der in meiner Blutbahn noch verbleibende Alkohol; mittlerweile schien nichts mehr unmöglich.
Ein Uhr. Von Julius keine Spur. Zwei Uhr. Von Julius keine Spur. Halb fünf. Von Julius keine Spur. Fünf. Sechs. Viertel vor sieben. Acht Uhr.
Die Stunden schleppten sich hin, zu anderen Zeiten eilten sie rumpelnd vorbei. Beim Klingeln des Telefons sprang Saffia auf und riss den Hörer ans Ohr, nur um enttäuscht in sich zusammenzusacken, dass es nicht Julius war. Die Dunkelheit kam und legte sich über die Hoffnung. Irgendwo wurde ein Kind verdroschen, seine Schreie schienen sich minutenlang hinzuziehen. Zwischen Saffia und mir, Schweigen. Dann stand Saffia auf, und dabei stieß sie, anscheinend ohne sich dessen bewusst zu sein, einen langen Seufzer aus. Als er verklungen war, hatte sich ihre körperliche Erscheinung komplett verändert; ihre Schultern erschlafften, als wäre buchstäblich alle Luft aus ihr gewichen. Sie ging im Zimmer umher und machte überall Licht.
Ich sagte: »Gibt es denn überhaupt etwas, weswegen Julius festgenommen worden sein könnte?«
»Natürlich nicht.«
Wir besprachen noch einmal die Ereignisse des Morgens, die Möglichkeiten – von denen es nur wenige gab. Am Ende wiederholte sie, was sie anfangs gesagt hatte. Das Ganze ergab keinen Sinn.
Ich schenkte uns Drinks ein. Saffia beteuerte, sie wolle nichts. Ich überzeugte sie davon, dass es helfen würde. Sie hatte den ganzen Tag keinen Bissen angerührt. Nach einem einzigen Schluck stellte sie das Glas wieder auf den Tisch. Bei mir jedenfalls hatte der Alkohol, Ursache und Therapeutikum meines Katers, eine sofortige lindernde Wirkung auf mein Nervensystem.
»Wir wissen nicht einmal, wo er ist«, sagte sie. »Ich hätte ihnen folgen sollen. Ich habe nicht nachgedacht. Es war alles sehr verwirrend.«
»Wie hätten Sie es wissen können?«
»Ja«, sagte sie. »Ich hätte es nicht wissen können. Man weiß es erst, wenn es passiert ist. Und etwas wie das ist noch nie passiert.«
Um elf ging ich nach Haus, mit dem Versprechen, am nächsten Morgen wiederzukommen. Ein Angebot, über Nacht zu bleiben, war abgelehnt worden. Mein Heimweg führte mich an mehreren Kontrollposten vorbei. Wie viele andere Leute auch hatte ich aufgehört, in ihnen etwas anderes als eine flüchtige Ungelegenheit zu sehen – wenn das Schicksal es nicht gerade böse mit einem meinte, heißt das, oder man sich im Gespräch ungeschickt verhielt. Ein selbstsicheres Auftreten provozierte die Soldaten. Ich fragte mich, ob sich zwischen Julius und den Männern, die an dem Morgen zu
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