Lied aus der Vergangenheit
sie unterwegs gewesen sei, konnte sie das nicht beantworten. Sie war vierzig Meilen von ihrer beider Wohnort entfernt. Nachdem Naasu sie heimgebracht hatte, schlief Agnes zwei ganze Tage durch.
Agnes erreicht das Ende ihrer Erzählung. Sie sitzt Adrian zugewandt da, während er sie schweigend betrachtet. Er hat recht, er weiß, dass er recht hat. Alles, was sie ihm heute erzählt hat, stützt seine Ahnung. Er würde nicht wagen, in einem so frühen Stadium eine Diagnose zu stellen. Dennoch ist er sich seiner Sache so sicher wie nur selten zuvor.
Adrian zieht unter einem Blatt Papier die Goldkette hervor, die Salia ihm gegeben hat, und händigt sie Agnes aus.
»Danke«, sagt sie höflich.
»Die gehört also Ihnen?«
»Ja. Das ist die Kette, die ich auf der Station verloren habe. Ich dachte, jemand hätte sie mir gestohlen.«
Adrian neigt den Kopf. Er spürt, dass Salia ihn beobachtet. Adrian sagt Agnes nicht, was Salia ihm erzählt hat. Dass die Kette von dem Mann aus dem ehemaligen Kaufhaus gebracht wurde, der sie bei einem Pfandleiher ausgelöst hatte – einem der vielen, die mit Tellerwaage und Juwelierslupe vor dem Kaufhaus auf der Straße saßen.
Agnes selbst hatte sie verpfändet.
Sonntag, Mittagszeit. Adrian hat es geschafft, sich ein Auto zu borgen, mit dem er zum Mittagessen zu Ileana fahren kann. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass er wieder am Lenkrad sitzt, und er ist anfangs unsicher. Der Geländewagen ist viel größer als alles, womit er es bislang zu tun hatte, und außerdem hat er Linkssteuerung. Seine Hände und Füße brauchen Zeit, um sich wieder ans Fahren zu erinnern. Bald beschleunigt er und genießt das Gefühl von Unabhängigkeit. Er folgt nicht der Wegbeschreibung, die Ileana ihm gegeben hat, sondern fährt in die entgegengesetzte Richtung, Richtung City, durch das dichte Gewühl des Kreisels. Die Temperatur steigt, er ist dankbar für die Klimaanlage, sowohl wegen der Kühle als auch, weil sie ihn von dem Staub und dem Lärm jenseits der Glasscheiben abschottet. Er schlägt das Lenkrad nach links ein, und der Verkehr lichtet sich etwas. Zur Rechten zieht sich weites offenes Gelände hin, ein Golfplatz; direkt vor sich kann er das Meer sehen. Die Straße macht einen Bogen nach rechts, und Adrian folgt ihr, den ganzen langen Strand entlang. Hier gibt es überhaupt keinen Verkehr. Er schaltet die Klimaanlage aus und öffnet das Fenster, lässt die Brise über sein Gesicht streichen. Am hinteren Ende macht er an einem weiteren Kreisel eine Kehrtwende. Als er die Linkskurve erreicht, sieht er eine kleine Nebenstraße, die er, aus der anderen Richtung kommend, übersehen hatte. Hinter zwei Betonpfeilern schwingt sich eine Auffahrt unter den Bogen eines Gebäudes. Adrian biegt ab und fährt auf den rückwärtigen Parkplatz, steigt aus und geht über den unebenen Asphalt zum Gebäude. Drei Stufen führen zu einem Brunnen hinauf: ein Art-déco-Mädchen, das, den Kopf in den Nacken geworfen, die Arme nach oben gereckt, eine Fackel hochhält. Ein Rinnsal aus Wasser läuft über die Arme und den Bauch des Mädchens in ein kleines algengrünes Becken zu ihren Füßen, aus dem gerade ein Hund mit grindigen Ohren schlappt. An der Wand hinter der Plastik ein verblasster Hinweis: Nur für Gäste des Ocean Club .
Parkettboden, ausgebleicht und wasserfleckig, in dem hier und da einzelne Stäbe fehlen. Adrian erreicht den oberen Absatz der kurzen Treppe. Auf der einen Seite des riesigen Raums eine hufeisenförmige Bar, geradeaus Gruppen von Tischen und Stühlen, zur Rechten eine ausladende Tanzfläche, die gut und gerne hundert und mehr Paare aufnehmen könnte. Vormittägliche Sonne und Schatten schimmern auf den Tischen, den Wänden, den abgestellten Deckenventilatoren. Am hinteren Ende der Tanzfläche ist das Gebäude zur Meeresfront hin völlig offen. Alles ist still, nur das Geräusch der Wellen. Es ist niemand zu sehen, während er über die Tanzfläche schlendert und sich dabei seltsam verwundbar fühlt, wie immer, wenn er eine menschenleere Tanzfläche überquert, so als könnte er jeden Augenblick einen Trommelwirbel oder das Krachen von Becken hören oder sich plötzlich im Spot eines Scheinwerfers wiederfinden.
Auf dem Strand treibt sein Schatten Dutzende durchscheinender Krebse vor sich her. Unten am Spülsaum folgen winzige Strandläufer der Bewegung der Wellen, wuseln dem ablaufenden Wasser hinterher und inspizieren den Sand nach gestrandetem Kleingetier. Huschen vor dem Andrang des
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