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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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»Willkommen!«
    Das Haus, ein kompakter Bungalow, steht direkt am Strand. Ileana geht in die Küche und kehrt mit einem kalten Bier für Adrian zurück.
    »Wenn das Haus mir gehören würde, hätte ich sämtliche Innenwände eingerissen und einen einzigen Raum daraus gemacht, wie ein Atelier«, sagt sie.
    »Es ist toll.« Er zieht sich die Schuhe aus, schiebt die Gittertür auf und tritt hinaus auf das federnde Gras und den Sand. »Wie sind Sie da drangekommen?«
    »Ein Bergbauunternehmen hatte es langfristig als Wochenendhaus für seine ausländischen Mitarbeiter gemietet. Ich habe es für einen Apfel und ein Ei übernommen. Man könnte sagen, dass der Immobilienmarkt zu dem Zeitpunkt leicht übersättigt war.« Ileana lacht. »Heutzutage würde man so was nie bekommen, und schon gar nicht für den Preis. Sämtliche anderen Häuser an diesem Küstenabschnitt werden an irgendwelche nicht staatlichen Organisationen vermietet, und zwar für ein Vermögen.«
    Sie zieht zwei Plastikstühle heran, und sie setzen sich und genießen ein paar Minuten lang ein geselliges Schweigen und das Rauschen der See.
    Eine Gruppe von Leuten kommt, die Sonne im Rücken, den Strand herauf. Drei dicke und drei dünne Silhouetten. Jede dicke Gestalt scheint mit einer dünnen zusammenzuhängen. Als sie näher kommen, sieht Adrian, dass es drei Männer sind, jeder mit einem jungen schwarzen Mädchen. Die Mädchen sehen ganz ungewöhnlich jung aus, gertenschlank und hübsch.
    Ileana und Adrian folgen ihnen mit den Augen.
    »Wie anders wir uns doch in anderer Leute Ländern benehmen«, sagt Ileana. Sie führt ihre Bierflasche an die Lippen. »Da sieht man’s.«
    »Sieht man was?«
    »Kaum glauben wir, dass wir damit ungeschoren davonkommen, tun wir, was uns passt. Dazu ist nicht der Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung erforderlich. Mehr als einen Flug von sechs Stunden braucht es nicht.«
    »Ich verstehe, was Sie meinen.« Adrian sieht den sich entfernenden Gestalten nach.
    Hier und da sitzen Gruppen von Badenden auf dem Sand oder unter einem Sonnenschirm. Kinder verkaufen Erdnüsse und Obst.
    »Ich hoffe, Sie mögen Krebse«, sagt Ileana.
    Sie tragen Salat, Teller und Besteck nach draußen. Es gibt gebratenen Reis und eine Flasche kalten Weißwein. Ileana wirft zwei Riesenkrebse auf einen Holzkohlengrill, wo sie knallen und zischen. Während des Essens spricht Adrian mit Ileana über Agnes, über die Fortschritte, die sie macht.
    »Sie ist zwar noch immer ziemlich verwirrt, aber das wird schon besser. Erst vor ein paar Tagen erkannte sie nicht mal ihr eigenes Gesicht im Spiegel. Jetzt ist sie imstande, ein Gespräch zu führen. Es gibt noch Erinnerungslücken, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie in ein paar Tagen wieder ganz sie selbst ist.«
    »Und die Wanderungen?«
    »Soweit ich weiß, haben sie erst nach dem Krieg angefangen. So viel scheint klar zu sein. Ich muss den Auslöser finden. Ich gehe von der Hypothese aus, dass während des Krieges irgendetwas passiert ist.«
    »Sie glauben, sie leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung?«
    »Die Möglichkeit ziehe ich in Betracht«, sagt Adrian vorsichtig.
    Adrian spürt Ileanas Blick, der unbewegt auf ihm ruht. Er kann ihr nichts vormachen, sie weiß genau, was er denkt. Wenn er nachweisen könnte, dass es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Fugue und der posttraumatischen Belastungsstörung gibt, hätte er etwas Beträchtliches erreicht.
    Um ein wenig davon abzulenken, erzählt er Ileana von der Goldkette und wie sie dieses bestimmte Geheimnis gelüftet haben. Agnes hatte sie selbst verpfändet und vergessen.
    »Dissoziative Amnesie«, sagt Ileana und steht auf. »Sie tut Dinge, an die sie sich dann nicht mehr erinnert. Noch Wein?«
    »Ja, bitte«, sagt Adrian.
    Er blickt zum Horizont. Im Geist spielt er noch einmal das zweite Gespräch mit Agnes ab, während dessen sie sich über den Diebstahl ihrer Goldkette beklagt hatte. Das war nach der Nacht, in der Salia gezwungen gewesen war, sie zu sedieren. Adrian hatte Agnes dazu ermutigt, sich an die Ereignisse zu erinnern, die zu ihrer jüngsten Wanderung geführt hatten. Sie hatte erwähnt, ihre Tochter sei außer Haus gewesen. Und bei ihrem letzten Gespräch, als sie über ihre erste Wanderung gesprochen hatten, das Gleiche: Da war ihre Tochter zu dem Zeitpunkt ebenfalls nicht zu Hause gewesen. Bei dieser Erkenntnis setzt sein Herz einen Schlag aus, er lehnt sich auf dem Stuhl vor, durchdenkt den Zusammenhang, den

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