Lied der Wale
Schnickschnack.
Davids Augen glitten über seine Lieblings-Jazz-CDs. »D« wie Davis. Nein. Von dem hatte er genug für heute. Damit hatte Leah Cullin ihn doch drangekriegt. Sie hatte ihn neugierig gemacht. Er kannte wenige Menschen, die sich überhaupt für Jazz begeistern konnten. Und er kannte noch weniger Frauen, auf die das zutraf. Aber er hatte es bisher noch nie erlebt, dass eine Frau auch noch aus dem Stand in der Lage war, nach nur wenigen Tönen von Miles das Stück zu erkennen, ja sogar, um welche Aufnahme es sich handelte. Er wusste von sich selbst, dass man so etwas nicht über Nacht erlernen konnte. Die Versuchung war tatsächlich groß gewesen, all seine Widerstände über Bord zu werfen. Doch letztlich hatte die Vorsicht gesiegt. Er war fest entschlossen, seineVorbehalte gegenüber Journalisten auf keinen Fall aufzugeben. Auch wenn sie alle Miles-Stücke auswendig kannten und aussahen wie Göttinnen.
Er wurde den Verdacht nicht los, dass er Leah Cullin schon begegnet war. Ganz sicher. Er vergaß die Nummer seiner Kreditkarte, er vergaß auch mal das Datum einer Miles-Aufnahme, aber seltener ein Gesicht. Und dieses kannte er. Dennoch hatte er nicht den leisesten Schimmer, aus welcher Schublade er das ihre herauskramen sollte. Die mit dem Etikett »Bankkontakte« kam ihm genauso unwahrscheinlich vor wie »Die dreißig freundlichsten Stewardessen weltweit«. Klar, die Schublade mit der Aufschrift »Presse« käme natürlich in Frage, doch eine Leah Cullin hatte ihn bisher nicht interviewt, oder etwa doch ...? Er war sich nicht gänzlich sicher, und das wurmte ihn. Das Einzige, was er mit Bestimmtheit sagen konnte, war, dass sie nicht in der Rubrik »One-Night-Stands« zu finden war. Er kam einfach nicht drauf, noch nicht. Irgendwann würde die entsprechende Schublade schon von selbst aufspringen.
Also keinen Miles mehr. In L. A. bewahrte er den Rest seiner Sammlung auf, vielleicht das Zehnfache dessen, was er hier an Bord hatte. Als er damals auf die »SeaSpirit« kam, benötigte er einen Koffer für Klamotten und persönliche Dinge und einen für Musik. Nachdem er sich in der Kabine eingerichtet hatte, stellte er fest, dass die Hälfte der Schränke leer geblieben war. Seltsamerweise erfüllte ihn das mit einem Gefühl der Genugtuung. Der einzige Luxus, den er sich gönnte, war ein kleines Paar der besten Boxen, die er bekommen konnte. Und auch wenn das leise Brummen des Dieselmotors so manchem Hi-Fi-Puristen den Spaß verdorben hätte, in der Beziehung war er alles andere als ein Dogmatiker. Wenn die Boxen gut klangen, konnte man sich mit dem Rest arrangieren.
In seiner Unschlüssigkeit war er inzwischen bei den Interpretenmit »W« angekommen. Wesseltoft, Bugge. New Conception of Jazz. Ein wahres Kleinod. Und genau das Richtige für seine momentane Stimmung. Obwohl er gerade vier Stunden Dogwatch geschoben hatte, war er aufgekratzt.
Für gewöhnlich konnte man ihn nach einer nächtlichen Wache ablegen, wo man wollte, innerhalb von fünf Minuten schlief er. Nicht so heute. Er legte die CD ein und wählte das zweite Stück: ›Sharing‹. Leise klang die Musik aus den Boxen. Drum’n Bass mit der Stimme von Bugge höchstpersönlich. »Once upon a time, there used to be another way of living. Someday there will be another way of living.« Klang regelrecht programmatisch für ihre Mission, wenn er so darüber nachdachte. Er legte sich rücklings aufs Bett und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Wieder sah er ihr Gesicht ganz deutlich vor sich. Die Begegnung hatte noch eine andere Saite in ihm zum Klingen gebracht. Er konnte sich kaum erinnern, wann er das letzte Mal mit jemandem überhaupt über Musik hatte reden können. Und er hatte in diesem Moment gemerkt, dass ihm etwas fehlte. Nicht etwa, dass er früher musiktheoretische Gespräche geführt hätte – das Parkett, auf dem sich seine Finanzkollegen bewegten, war nicht reich gesegnet mit Menschen, die daran interessiert waren. Doch seit er auf dem Schiff lebte, war er mit seiner Passion allein geblieben, fast allein – denn diese Frau schien wahrlich ...
Was wird sie über uns schreiben?, schoss es ihm durch den Kopf. Wahrscheinlich denselben Stuss wie alle zuvor. Trotz Steves Bestrebungen, der Arbeit eine wissenschaftliche Untermauerung zu verpassen, war es schlicht ihr Ziel, Wale zu retten, alles andere war nur Beiwerk. Wie sollte er Ms Gib-mir-die-Fakten das verständlich machen, wie sollte sie begreifen, was für besondere Wesen Wale
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