Lied des Schicksals
direkt hinter der Bühne sein musste. Ohne jede Mühe bewegte sich Darcy völlig lautlos nach rechts und schlängelte sich zwischen Kulissen hindurch, auf denen Landschaften und Gebäude abgebildet waren. Er suchte nach einem Weg, wie er von der Rückseite der Bühne in den Zuschauerraum gelangen würde. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass es noch eine Tür geben musste.
Er fand die Tür genau in dem Moment, als das Orchester verstummte. Aus dem Publikum kam ebenfalls kein Geräusch. Darcy blieb stehen und lauschte. Dann hörte er, wie das Orchester in voller Lautstärke loslegte. Vor sich hin lächelnd, begann er vorsichtig die Tür aufzuziehen. Da griff eine Hand über seine Schulter und schob die Tür wieder zu.
»Was machst du da? Niemand darf während der Aufführung durch diese Tür.«
Darcy hatte sich zu dem Sprecher umgedreht. Der Mann blinzelte ihn im Halbdunkel an. »Hey! Wer sind Sie überhaupt? Sie sind doch kein Bühnenarbeiter.«
»Nein«, gab Darcy zu und versuchte rasch, die Situation einzuschätzen. Der Mann hatte sich freundlich angehört. Da er das Gefühl hatte, ihm vertrauen zu können, beschloss Darcy, es mit Ehrlichkeit zu versuchen. »Ich bin ein guter Freund von Miss Trevannick. Weil ich zur Hälfte Aborigine bin, bekomme ich keine Eintrittskarte. Ich gebe zu, dass ich versucht habe, mich in den Saal zu schleichen. Ich wollte Etty unbedingt sehen, bevor ich morgen nach Hause fahre.«
Vor Ãberraschung stieà der Mann einen kaum hörbaren Pfiff aus. »Das muss man sich mal vorstellen. Sie scheinen ja wohl die Wahrheit zu sagen. Es gibt nur etwa drei Leute, die Miss Trevannick mit ihrem Kosenamen anreden. Okay, rein mit Ihnen. Aber Sie sollten zusehen, dass Sie vor der Pause wieder drauÃen sind.«
Eine Handvoll Leute drehten den Kopf, als sich Darcy durch die Tür schlich. In dem düsteren Licht würden sie nur einen ordentlich angezogenen Mann mit olivfarbener Haut sehen. Mehrere Sitzreihen von der Stelle entfernt, an der er den Theaterraum betreten hatte, fand er einen freien Platz, praktischerweise am Rand. Er hatte sich kaum gesetzt, da ging auch schon der Vorhang auf.
Darcy genoss zwar die Musik und das ganze Schauspiel, wurde aber nicht schlau daraus, worum es in der Oper ging. Selbst wenn die Lieder auf Englisch gesungen worden wären, zweifelte er, dass er die Geschichte verstanden hätte. Nur wegen Etty lohnte es sich, das alles anzusehen. Als bei ihrem Erscheinen auf der Bühne tosender Applaus losbrach, schaute er sich überrascht im Publikum um. Eine noch gröÃere Ãberraschung für ihn war jedoch, wie Etty reagierte. Unweigerlich musste er an eine Prinzessin denken, die ihre Untertanen grüÃte.
Als sie zu singen anfing, herrschte im Publikum absolute Stille. Alle lauschten gebannt. Darcy schluckte einen Kloà im Hals herunter. Unwillkürlich hatte er plötzlich vor Augen, wie sie beide Hand in Hand ruÃverschmiert von dem Buschfeuer die StraÃe entlanggingen. Er musste mehrmals blinzeln, um sich wieder auf die Bühne konzentrieren zu können. Nun interessierte es ihn nicht mehr, wovon die Oper handeln könnte. Er sah nur noch Etty, hörte nur noch sie. Und er versuchte vergeblich, in ihr ein winziges Ãberbleibsel von dem Mädchen zu entdecken, das er sein Leben lang geliebt hatte.
Bevor sich der Vorhang am Ende des ersten Akts vollständig geschlossen hatte, schlüpfte Darcy wieder durch die Tür. Unbemerkt verlieà er das Theater auf demselben Weg, den er gekommen war. Er konnte sich das nicht länger ansehen. Etty, seine Etty, lebte jetzt in einer Welt, die er weder kannte noch verstand. Er fühlte sich, als hätte man ihn bis auf den letzten Penny ausgeraubt.
Erst einige Tage später erzählte der Bühnenarbeiter Etty von dem jungen Aborigine, der sich ins Theater geschlichen hatte, um sie singen zu hören. »Ich glaub allerdings nicht, dass er lange geblieben ist. Ich hab ihn nämlich nicht mehr gesehen.«
Etty war sprachlos. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass Darcy in Melbourne war. Er hatte sie nicht besucht, sondern sich nur ins Theater geschlichen und war dann, ohne ihr eine Nachricht zu hinterlassen, wieder gegangen. Etty war gekränkt.
Nach zwei Monaten, die ihm wie ein Jahr vorgekommen waren, erhielt Darcy endlich seine Prüfungsergebnisse. Er hatte mit sehr guten Noten bestanden.
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