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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja
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gelben Sommerhaus nicht versäume; nichts interessierte sie mehr. Jeden Tag saß sie, in der Hoffnung, das Spiel des Unbekannten von neuem zu hören, gegenüber dem gelben Haus auf der kleinen Bank.
    Eines Abends räumte der alte Diener auf der kleinen Terrasse des Nachbarhauses die Tassen ab, trug den Samowar hinein und verschloss hinter sich die Tür. Die Fenster aber standen offen, und Sascha hörte, wie jemand den Deckel des Flügels hochklappte und einige Akkorde angeschlagen wurden. Sie erkannte den Anfang einer Chopin-Sonate und hielt den Atem an. Die Melodie dieser Sonate erzählte ausdrucksvoll die tragische Geschichte eines ganzen Menschenlebens: Zunächst ruhig und bedeutungsvoll, dann traurig, schmerzerfüllt; schließlich hielt die Musik inne, und es erklang der Trauermarsch, rhythmisch und klassisch streng in der Ausführung. Dies war die Melodie der zärtlichen, innigen Erinnerungen, wie sie so oft in Saschas Herzen erklungen war! Und wieder, in streng gehaltenem Rhythmus, der Trauermarsch, finster, kaum vernehmbar.
    Sascha stöhnte auf. Mit fürchterlicher Kraft führte dieses erhabene Kunstwerk ihr das ganze Leben eines geliebten, dahingegangenen Menschen vor Augen.
    Schließlich erhob sich zügig, ganz wie die Geister über dem Grab, luftig und leicht, das Finale. Sascha rannte zum gelben Haus hinüber, setzte sich an den Rand der Terrasse und lauschte dem Schlag ihres Herzens, das im Mieder ihres leichten weißen Kleides pochte. Und da war das Stück auch schon zu Ende.
    Der Pianist stieß mit kräftiger Hand die Tür auf und trat auf die Terrasse heraus. Sascha zuckte zusammen, doch noch ganz in jene Gefühle versunken, die ihr geradezu den Atem nahmen, begriff sie nicht sofort, was vor sich ging. Erst als die stattliche Figur des Musikers sich über ihr erhob und dieser sie unruhig blinzelnd, mit unstetem und leicht verärgertem Blick aufmerksam betrachtete, erschrak sie vor dem, was sie getan hatte. Sie stob auf wie ein Vogel, murmelte betreten«Verzeihung…»und lief, leicht wie ein Lufthauch, in ihrem weißen Kleid mit den durchsichtigen Ärmeln durch die Dunkelheit davon.
    Voller Verwunderung blickte der Mieter des gelben Sommerhauses der zarten Gestalt der unbekannten Frau nach, die seine Zurückgezogenheit und Ruhe gestört hatte. Als Ästhet, der er war, konnte er indes nicht umhin, sich an dem Anblick der Anmut und Schönheit ihrer ätherischen Erscheinung zu ergötzen. Die Einmengung in sein Privatleben stimmte ihn verdrießlich. Dass jemand seine Ruhe gestört hatte, verdross ihn ebenso sehr wie die Tatsache, dass diese Begegnung ihn unwillkürlich aufwühlte und sein Blick von der Gestalt in der Dunkelheit unwiderstehlich angezogen wurde. Er nahm die Brille ab, setzte sich an den Rand der Terrasse und versank in düstere Gedanken. Unmerklich verblasste der Eindruck der unbekannten Dame, der Ärger über ihr plötzliches Erscheinen verflog, und in ihm erklang wieder jenes prächtige Motiv, das er kürzlich erst improvisiert hatte. Deutlicher und deutlicher erschien ihm diese großartige Melodie, zart, hell, reich; unerwarteten, anmutsvollen Wendungen folgend, hob sie herrlich in ihm zu singen an… Sie wurde greifbarer, klarer, und die entschwundene weiße Erscheinung der unbekannten Dame erstand von neuem vor dem Auge des Komponisten, grazil, anmutsvoll, ganz sinnliche Verkörperung seiner musikalischen Motive. Sie entfloh und tauchte von neuem auf… Es war wie ein Traum.
    Iwan Iljitsch fühlte keinen Verdruss mehr. Mit einem heiteren Lächeln trat er ins Zimmer und begann rasch, jene wunderbare Melodie, die mit der Zeit das Hauptthema seiner eben erst begonnenen Symphonie werden sollte, auf Notenpapier festzuhalten. Er schrieb lange, setzte sich dann an den Flügel und spielte das Notierte. Lange hatte ihm seine Kunst nicht mehr solches Entzücken bereitet. Alle Kraft seines Geistes strömte in jener Nacht in sein Werk. Zum ersten Mal in seinem Leben saß er, seine alltägliche Ordnung durchbrechend, bis zum Morgengrauen über der Arbeit und legte sich erst für ein paar Stunden zur Ruhe, als der Osten von der aufgehenden Sonne erleuchtet wurde und die helle Morgendämmerung durch die kleinen Fenster des Hauses in sein Schlafzimmer drang.

IX
     
    «Saschenka, dieser Nachbar ist ein ganz feiner Mensch. Ich war heute mit ihm schwimmen und habe ihm Radieschen versprochen», verkündete Pjotr Afanassjewitsch, als er zu Sascha auf den Balkon trat. In der Hand hielt er ein nasses

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