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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja
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Tod vorzustellen, ist eben der Beweis, dass er nicht existiert…»
    «Doch Mama ist nicht mehr, dem ist offenkundig so… und wenn man auch sagt, die Seele sei unsterblich, der Körper sei ihre Bürde – ‹tu es une âme, qui porte un cadavre› 19 -, wäre es gleichwohl besser, wenn der die Seele tragende Körper der Mutter noch lebendig wäre und sie wie früher in ihrem Haus zusammensäßen und glücklich wären… Nun aber ist das Gut verwaist, und ich bin allein, allein…»Selbstmitleid und eine geradezu körperliche, schlichte, fast kindliche Verzweiflung übermannten sie; ihr Kopf fiel in ihre Hände, und ein Schluchzen zerriss ihre Brust…
    Plötzlich erklang in der weichen Stille der Mainacht die von meisterhafter Hand gespielte Melodie eines der«Lieder ohne Worte»in G-Dur von Mendelssohn. 20 Die erste Note der rechten Hand, für einen Augenblick gehalten, ertönte tief, lang und ausdrucksvoll. Die linke Hand begleitete die Melodie wie ein leichtes Säuseln, dann war das D nicht mehr zu vernehmen, die Stimmen der linken und rechten Hand vereinten sich und hoben zu singen an. Dieses Lied erzählte Sascha alles über ihre Trauer, beruhigte sie und verhieß ihr Glück, Leben und eine neue Liebe…
    Sascha kannte das Lied nicht, und sie verspürte in diesem Moment keine Neugier; auch erfasste sie nicht sogleich, dass das«Lied ohne Worte»aus dem gelben Sommerhaus herüberklang, dass der Nachbar es spielte, wie jemand spielt, der meint, dass niemand ihm zuhört. Denn wenn man allein ist, spielt man ohne Befangenheit, frei vom Einfluss des Publikums, gelassen, in sich versunken; es entsteht eine geheimnisvolle Verbindung zwischen dem verstorbenen Komponisten und dem begnadeten Interpreten.
    Als das Stück zu Ende war, begann der unsichtbare Bewohner des gelben Sommerhauses von neuem zu spielen, einige musikalische Motive wiederholend, probierte sie einmal leiser, einmal lauter, betonte einzelne Noten, damit sie länger klängen, verstärkte einen Ton oder schwächte ihn ab. Er ging mit dem Musikinstrument um wie mit seiner eigenen Stimme, und das Instrument fügte sich seiner einfühlsamen Hand, als ob es lebendig wäre und seinen Herrn demütig liebte.
    In allen Variationen klang das«Lied ohne Worte»wunderschön, und es war, als ob es der kranken Seele Saschas etwas Empfindsames und Zärtliches erzählte, das sie beruhigte und erfreute. Doch dann das Ende – im Pianissimo erklang derselbe Akkord dreimal wie ein Seufzen, und alles war still. Auch Sascha seufzte auf, ihr war, als hätten die Klänge des Klaviers eine schwere Last von ihrer Seele genommen.
    Kein Geräusch drang aus dem gelben Haus. Still und warm war diese Mainacht. Und die Stille drang in Saschas Seele und erfüllte sie mit Glück.
    «Mein Gott, ich danke Dir!», sagte sie leise. Und zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter zeigte sich ein Lächeln auf ihren Lippen, und sie fühlte sich mit dem Leben versöhnt.
    Der unsichtbare Musiker spielte erneut einige Akkorde und begann etwas Schwieriges, Tragisches, aus dem eine wundervolle Melodie in Moll erstand; offensichtlich improvisierte er. Ta-tam, ta-tam – Sascha fiel das Geräusch des Zuges ein, der sie auf die Krim zur sterbenden Mutter gebracht hatte, und jene Melodie, die sie damals in ihrem Traum gehört hatte, war offenbar genau jene, der sie nun lauschte.
    «Ja, das ist sie!», rief Sascha unvermittelt, und es wurde ihr schrecklich. Sie rannte ins Haus, sperrte überall ab, befahl, die Fensterläden zu schließen, die Lampen zu entzünden, ließ sich Tee aufs Zimmer bringen. Mit übertriebener
    Freude empfing sie ihren Gatten, als dessen Wagen, beladen mit allen möglichen Einkäufen und Vorräten aus Moskau, endlich vorfuhr.

VIII
     
    Sascha erzählte ihrem Mann nichts vom Mieter des gelben Sommerhauses und von jenem mächtigen Eindruck, den sein Spiel auf sie gemacht hatte. Eifersüchtig wachte sie über das Geheimnis, das ihren Kummer gelindert hatte, und wartete mit quälender Ungeduld darauf, dass aus dem Haus des Nachbarn wieder Musik erklänge. Doch einige Tage lang blieb alles ruhig. Der Interpret des«Liedes ohne Worte»führte ein ungewöhnlich rechtes Leben: Er stand früh auf, ging baden, aß um eins zu Mittag, zeigte sich nach fünf Uhr wieder und ging den ganzen Abend lang spazieren. Niemand besuchte ihn außer einem jungen Mann, den er offensichtlich unterrichtete.
    Eine Woche verstrich. Sascha ging nicht mehr spazieren, damit sie das Spiel des Nachbarn aus dem

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