Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
der begnadeten Hand. Sascha spürte, wie die Tränen sie erstickten; sie sprang auf und lief ins Nebenzimmer, und den Kopf auf dem Spiegeltisch in die Hände vergraben, löste sich ihr Zittern unter stillem Schluchzen.
Sascha wollte vor diesem Menschen, der die Kunst in solcher Vollkommenheit verkörperte, auf die Knie fallen. Wie eine Heidin in alten Zeiten vor dem Götzenbild, so wollte sie sich bis zum Boden vor jener Kraft verneigen, die in ihr den Sinn für das Schöne wiedererweckt und sie ins Leben zurückgerufen hatte.«Das also ist Musik?», dachte Sascha verwundert.«Warum nur habe ich dies nicht schon früher erkannt?»
Iwan Iljitsch kam zum Ende, schwieg eine Weile, sah dann auf die Uhr und sagte in gleichgültigem, gelangweiltem Ton:«Zeit, schlafen zu gehen. Leben Sie wohl.»
Und es war, als wäre er geradezu verloschen; das Feuer, das Sascha in seinem Spiel gespürt hatte, war verglüht, Energie und Kraft waren dahingegangen, der Quell dieser Kostbarkeiten war jäh versiegt. Als ob Iwan Iljitsch ganz bewusst wieder prosaisch, fassbar und langweilig geworden wäre. Sascha jedoch konnte er nicht täuschen. Sie verstand diesen Ton, verstand, dass er sagen wollte:«Berühre mich nicht, wenn ich es nicht wünsche, blicke nicht in das Allerheiligste meiner Welt – die Kunst, die ich mehr als alles auf der Welt liebe.»
Sascha wollte ihm danken, doch sie vermochte es nicht. Sie reichte ihm die Hand, und ihre feuchten, von Tränen und Erregung glänzenden Augen sagten ihm mehr, als Worte hätten sagen können. Es schien Sascha, dass Iwan Iljitsch ihre Hand etwas länger als nötig in der seinen hielt, und, nachdem er etwas unschlüssig stehen geblieben war und voller Neugier in ihre kindlichen, bezaubernden Augen geblickt hatte, trat er auf die Terrasse hinaus, ohne recht zu begreifen, ob seine neue Bekannte die begeisterte Liebhaberin der Musik nur spielte oder ob sie tatsächlich so empfindsam und verständig war.
X
Am nächsten Morgen reiste Iwan Iljitschs Schüler an, und zweieinhalb Stunden lang waren chromatische Tonleitern, unterbrochen von Gesprächen und lautem Jungenlachen, aus dem gelben Haus zu vernehmen.
Auch Sascha fühlte Heiterkeit in sich aufsteigen. Sie wollte gleichfalls lachen, sich regen. Sie spielte mit Aljoscha, lief in den Garten, stieß auf einige Unordnung im Haushalt. Indes: Wie unwichtig waren doch die alltäglichen Unbilden und Sorgen nach dem bedeutungsvollen gestrigen Ereignis – dem Vortrag der Beethoven-Sonate durch Iwan Iljitsch! Mit welch nachsichtiger Gefasstheit blickte Sascha auf die Unordnung im Haus, mit welcher Gleichmut begegnete sie der übertriebenen Verzweiflung ihres Gatten, da irgendwelche Samen schlecht gekeimt hatten… Welch wundervolles Entzücken lag in der Erinnerung an das Klavierspiel Iwan Iljitschs am gestrigen Abend.«Und vielleicht wiederholt sich dieses Glück ja morgen, den ganzen Sommer lang, bis wir wieder vom Land nach Moskau zurückkehren! Der Teure!», dachte Sascha zärtlich, von Innigkeit für jenen Unbekannten erfüllt, der ihr so viel Freude beschert hatte.
«Aber wie stumpf und schmutzig sind doch die Fenster vom Ruß der Lampen und vom Staub!», und Sascha fiel ein, dass ihr Mann sich erst gestern darüber beschwert hatte.«Parascha muss dafür gescholten werden… Ach nein, niemanden sollte man jemals für irgendetwas schelten. Sollen doch alle sich des Lebens freuen. Wie er das Largo begann! Nein, das war außerordentlich! Wie wunderbar, welch Glück!»
Sascha nahm ein Tuch und entstaubte die Fensterscheiben, wobei sie behutsam das durchsichtige Grün des federgleichen, zarten Farns am Fenster zur Seite bog und mit der Hand die mannigfarbigen Rosen umrundete, die in Töpfen auf dem Fensterbrett standen und ihr Auge erfreuten.«Ach, Parascha zu schelten ist gar nicht nötig, soll sie nur schlafen, sie ist noch müde vom gestrigen Tag… Und das Finale der Sonate! Das war kein Pianoforte, das waren keine Noten, sondern ein ganzes Poem über die menschliche Innenwelt… Und das Rezitativ? Es hat mir nicht nur die wundervolle, alles verstehende und empfindsame Seele Beethovens offenbart, sondern auch die des Mannes, der sein Werk spielte. Wie beglückend! Wie schön ist doch das Leben!»Saschas Herz hüpfte, und es schien, als sei es derart von der Musik erfüllt, dass es zerspringen wollte.
Sascha setzte sich ans Klavier und stimmte leise die Sonate von gestern an, bemüht, sie ebenso zu phrasieren wie Iwan Iljitsch. Sie
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