Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
Njanja. Kurz darauf kam vom Nachbarhaus der alte Hausdiener und bat, für einige Minuten Hausknecht und Diener Pjotr Afanassjewitschs freizustellen, damit sie ihm halfen, den Flügel des neuen Mieters hineinzutragen.
Mit viel Geschrei, außerordentlicher Beflissenheit und Sorgfalt hoben sie das Instrument an langen, leinenen Trageriemen vom Wagen und brachten es ins Haus. Dann luden sie von einem zweiten Wagen die schlichten Habseligkeiten des neuen Mieters, trugen Schrankkoffer, Stühle, ein Bett, Körbe und alles Weitere hinein. Der alte Hausdiener bedankte sich für die Hilfe, steckte den beiden Bediensteten eine Zweigriwnamünze 13 zu, und alles war wieder still. Und still blieb es einige Tage lang. Niemand zeigte sich auf der Terrasse oder an den Fenstern des gelben Sommerhauses. Der alte gutmütige Hausdiener des Nachbarn, Alexej Tichonytsch, dessen Name den Bediensteten in Saschas Haushalt bereits geläufig war, saß zuweilen auf der Bank, schaute vor lauter Langeweile dem Leben der Nachbarn zu und kam zu dem Schluss, dass er die Herrschaften als rechtschaffen erachte. Allein der Herr schien ein komischer Kauz zu sein: Den ganzen Tag wühlte er in der Erde; er zog Blumen, die niemand brauchte, Salat – also Kraut – und auch Tomaten, die er, Tichonytsch, ohnehin niemals äße.
Der kleine Aljoscha kam bisweilen mit der Njanja an Alexej Tichonytsch vorbei. Einmal fragte er diesen, wie er heiße, und war begeistert, einen Namensvetter gefunden zu haben. 14 Schon beim nächsten Mal trug der Knabe, der große Sympathie für Tichonytsch empfand und vermutete, dass dieser sich langweile, ihm an, ihn beim Morchelnsammeln zu begleiten.
«Gleich, mein kleiner Herr, ich sperre nur das Haus ab.»
Seit diesem Tag verband Tichonytsch mit Aljoscha und der Njanja eine große Freundschaft. Oft saßen sie im Vorgarten beim Tee zusammen. Tichonytsch konnte Rohrpfeifen aus Zweigen und Hähne aus Papier basteln, er erzählte Aljoscha Geschichten und brachte ihm Lieder bei, die er von den Schülern seines Herrn gelernt hatte.
Sascha war in der ersten Zeit auf dem Land beschwingt und erfreute sich am Frühling, an der Natur, am Wald und an den Nachtigallen. Es schien, als könne sie zur Ruhe finden. Von Zeit zu Zeit jedoch überfiel sie wieder jene heillose Trauer, sie aß nicht, schlief nicht, saß regungslos und tatenlos in der Ecke.
Am Abend eines wunderschönen, ruhigen Maitages, an dem Sascha von früh bis spät untröstlich geweint hatte, saß sie auf dem Balkon des Sommerhauses und horchte auf jedes Geräusch, denn sie erwartete Pjotr Afanassjewitsch zurück, der am Morgen in dienstlichen Angelegenheiten nach Moskau gefahren war. Der kleine Aljoscha war einige Male zu seiner Mutter getreten und hatte sie, teils aus mitfühlender Neugier, teils aus egoistischer, kindlicher Betrübnis darüber, dass sein fröhliches Leben gestört wurde, gefragt:«Mama, wann wirst du denn endlich zu weinen aufhören?»Schließlich war Aljoscha zu Bett gebracht worden. Sascha trat auf den Weg hinaus, und das Erste, was sie erblickte, war jener grünlich strahlende Stern – die Venus, die am reinen, frühlingshaften Himmel herausfordernd hell leuchtete. Und der Wunsch nach Glück, Trost und Wohlergehen erwachte für einen kurzen Moment erneut in Saschas Herzen. Sie ging zurück und setzte sich auf die Bank am Haus, gedachte ihrer verstorbenen Mutter und erinnerte sich der Worte, die sie bei den verschiedenen Denkern über den Tod gelesen hatte und die sie, als sie sich mit dieser ewig ungelösten Frage beschäftigte, notiert hatte. Sie wollte einen Ausweg, Besänftigung finden.
Ihr kamen die Worte Epiktets 15 in den Sinn: «La mort c’est l’absorption des éléments de l’intelligence humaine dans l’intelligence universelle» , 16 und sie versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, die intelligence universelle sei Gott, und ihre Mutter sei nun bei Gott. Und auf die Frage, wohin der Mensch nach dem Tod gehe, folgte als Antwort :«Vers des choses amies et du même genre que toi – vers les éléments.» 17 Dies bedeutete also, dass ihre Mutter eins geworden sei mit der Natur, und dies war gut.
Und bei Lew Tolstoi heißt es:«Der Tod ist lediglich die Zerstörung einer auf Zeit gegebenen Form; diese Zerstörung allerdings ist ein unendlicher Prozess…» 18 Und weiter schreibt er:«Der beste Beweis der Unsterblichkeit ist, dass kein Mensch sich die Endlichkeit seines Daseins vorzustellen vermag, und die Unmöglichkeit, sich den
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