Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
wohnen; auf nachdrücklichen Wunsch Pjotr Afanassjewitschs aß er täglich bei ihnen zu Mittag.
Sascha wurde erneut von Schwermut und Unruhe erfüllt, so dass sie ihr gewohntes Leben fortzuführen kaum imstande war.
II
Ein grauer Tag
Es gibt Tage im August, an denen man nach drückender Hitze am Morgen erwacht – und der Himmel ist grau, der Ostwind bläst, es ist kalt und trostlos. Man zieht die Vorhänge zurück, kann es nicht fassen und legt sich wieder in das noch nicht erkaltete Bett. Man liegt da, wärmt sich und träumt. Was mag das sein? Das Ende des Sommers? Tatsächlich? Doch gar so schnell…! Man schließt die Augen wieder, und Gedanken und Erinnerungen jagen einander… Der gestrige Tag – dieser klare, helle Tag, als du in der Abenddämmerung noch im Fluss geschwommen bist, ruhig mit den Armen das warme, weiche Wasser teiltest, welches dein ganzes Wesen zart umhüllte -, wo ist er? So weit fort, so lange vorbei und so schön!
Die Seele stellt sich auf den Tagesablauf des Herbstes ein; man beginnt, sich Beschäftigungen für den Tag auszudenken, und versucht gleichwohl, das Sommerleben fortzuführen. Doch man hat gar keine Kraft mehr, jene Kraft, die nur die Sonne verleiht, mit der man gestern noch aus dem Bett sprang, voller Begeisterung sagte:«Was für eine Hitze!»und gleich durch den Garten nach unten zum Fluss lief. Welche Freude lag im gesamten Dasein! Wie hübsch glänzte der Tau, im Sonnenlicht spielend, auf Gräsern und Blattwerk!
Die Kälte widerstrebt einem noch, man sehnt sich nach der Behaglichkeit, der Hitze und Mattigkeit der vergangenen Tage, um die es nun unendlich schade ist.
Aber man muss doch aufstehen. Muss sich den neuen Gegebenheiten, der neuen Stimmung anpassen und, wenngleich auf andere Weise, weiterleben. Wie oft geschieht es, dass die kleinste Veränderung der Umstände einen an diese schlichte Wahrheit erinnert: dass man weiterleben muss . Man empfindet dies geradezu als Entdeckung und freut sich über diese Klarheit des Gedankens – dass man weiterleben muss. Ja, hat man denn zuvor nicht gelebt? Was ist das wirkliche Leben, und was ist Leere, Dahinvegetieren, Totschlagen von Zeit?…
Der Philosoph Seneca erkennt voller Verzweiflung: «Hélas, la plus grande partie de notre vie n’est pas vie, mais durée … » 28
All dies dachte und empfand Iwan Iljitsch, als er am Morgen des siebten August in seinem gelben Sommerhaus erwachte. Alexej Tichonytsch brachte ihm Stiefel und Anzug ins Zimmer und begann, über die Kälte zu klagen.
«Das Haus ist wie ein Kartenhaus, man kann es nicht heizen, ach, man kommt hier vor Kälte um. Es ist an der Zeit, wieder nach Moskau überzusiedeln.»
«Nein, es ist noch allzu früh, Tichonytsch. Mach die große Lampe an und stell sie in deinem Zimmer auf.»
«Was denn, was werde ich Kerosin verschwenden, das kostet doch Geld. Man sollte einfach abreisen. In der Stadt zahlen wir schließlich auch für das Quartier.»
Iwan Iljitsch war stets sehr beunruhigt, wenn Tichonytsch unzufrieden war. Er beeilte sich aufzustehen, kleidete sich an und trat auf die Terrasse. Wie es seiner Gewohnheit entsprach, machte er sich auf zu seinem täglichen Sommerspaziergang. Auf der Weide hinter dem Garten blieb er stehen und blickte in die Ferne, in Richtung der anderen Ortschaften. Kalt war es und feucht; die Schwalben flogen so tief und so nah an Iwan Iljitsch vorbei, dass sie ihn fast berührten. Vor Kälte zitternd, wandte er dem schneidenden Ostwind den Rücken zu und folgte mit dem Blick ihrem schnellen Flug. Doch er selbst mochte sich gar nicht mehr bewegen. Wohin gehen? Wozu? Was tun? Es ist verdrießlich… keine Kraft für die Arbeit, keine Lebensfreude wie noch am gestrigen Tag – nichts, rein gar nichts, das man mehr unternehmen möchte.
Huuuu…! pfiff der Wind, dann ein Krachen, und hinter Iwan Iljitsch tauchte eine Equipage auf. Wer mochte das sein? So früh am Morgen!
Als der Wagen auf gleicher Höhe war, sah Iwan Iljitsch Sascha darin sitzen, eingehüllt in ein weißes orenburgsches Tuch 29 . Zu den Füßen des Kutschers stand ein Koffer, ein zusammengegürtetes Plaid lag im Fond. Neben Sascha saß Parascha.
«Wohin fahren Sie, Alexandra Alexejewna?», fragte Iwan Iljitsch erstaunt.
Sascha wies den Kutscher an, zu halten, und antwortete:«Ich fahre zum Fasten ins Dreifaltigkeitskloster 30 .»
«Aber das hatten Sie doch gar nicht vor. Was ist Ihnen denn in den Sinn gekommen? Oder haben Sie so viel gesündigt?», fragte in
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