Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
näherte, bemerkte sie, dass die Fensterläden des gelben Sommerhauses verschlossen waren und es von der alten Stille umgeben war.
«Er ist fort!»Ihr Herz krampfte sich zusammen, sie wusste nicht einmal, wo er in Moskau wohnte, wohin er gefahren war, ob er sie besuchen käme.
«Ach, was geht mich das alles an! Gleich sehe ich Aljoscha und Pjotr Afanassjewitsch, werde mich meinem Sohn, meinem Heim, der Musik widmen… Der Musik, ganz allein und ausschließlich der Musik, ohne Iwan Iljitsch, ohne jegliche äußere Einflüsse.»
Sascha trat in ihr Zimmer und erschauerte, als sie auf dem kleinen Tisch Notenblätter und eine Notiz erblickte: Iwan Iljitsch hatte sie ihr am Tag seiner Abreise geschickt. In kühlen, ungelenken Wendungen verabschiedete er sich von Sascha und bat, ihr jene Romanze widmen zu dürfen, die er während ihrer Abwesenheit geschrieben habe.
«Mama, was hast du mir mitgebracht? Zeig doch!», rief Aljoscha, der ihr entgegenrannte.«Hast du der Njanja ein Heiligenbildchen mitgebracht? »
Sascha umarmte den Sohn, holte das Spielzeug und die Heiligenbildchen hervor und schickte nach ihrem Mann, der mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und mit Erde verschmierten Händen aus dem Garten herbeieilte.
«Ach Saschenka, es ist gut, dass du zurück bist. Aljoscha und ich hatten schon Sehnsucht nach dir.»
«Was hast du gerade gemacht?»
«Ich habe die Dahlien ausgegraben und möchte die letzte, die noch blüht, schneiden.»
«Ja, bald schon müssen wir nach Hause zurück. »
«Der Sommer ist beinahe vorüber, wir haben ihn gut hier verlebt. Aber es wäre zu schade, jetzt schon abzureisen, es wird noch ein paar schöne Tage geben.»
Sascha stimmte hastig zu und beschloss, bis in den September zu bleiben.
Und die Tage zogen dahin, gleichförmig, ereignislos, beschaulich. Sascha war solch guter Stimmung, dass sie nichts unternahm, nirgendwohin strebte, ja sogar fürchtete, dieses Gleichmaß des Alltags zu durchbrechen, welches ihr Pflichtgefühl zufriedenstellte und sie reinen Gewissens sein ließ.
Einige Tage lang schlug Sascha die von Iwan Iljitsch übersandte Romanze nicht auf. Doch als sie sich einmal ganz und gar ruhig fühlte, wagte sie, einen Blick hineinzuwerfen und sogar einige Takte zu singen. Bei allen Werken Iwan Iljitschs war es anfangs schwierig, seinen musikalischen Ideen zu folgen. Doch je öfter man sie spielte oder sang, desto klarer zeigte sich die Schönheit der Musik, desto mehr Tiefe und wahrhaft edle Begabung waren darin zu entdecken. Diese Romanze aber war seinen anderen Werken vollkommen unähnlich. Von den ersten Noten und den ersten Worten an lagen in ihr solche Leidenschaft und leichte Anmut, dass Sascha sie sogleich verstand und furchtbar aufgewühlt wurde. Hat er dies geschrieben? Wessen sind diese leidenschaftlichen Worte? Hat dieser gleichmütige Mensch tatsächlich so etwas schreiben können? Wie denn und für wen? Eine mitreißende Begleitstimme untermalte die prächtige, erregende Melodie, die Ausdruck einer liebenden Seele war.
Sascha sang diese leidenschaftlichen Liebesweisen wieder und wieder, stärker und stärker klopfte ihr Herz. Schließlich sprang sie auf, trat vom Flügel weg und rief:«Nein, nicht!»In diesem Moment erinnerte sie sich der Zigeunerin im Dreifaltigkeitskloster, die ihr den Liebeszauber versprochen hatte. Sie erschrak so sehr über ihre Gedanken, dass sie aufschrie:«Mein Gott, errette mich!»und, wie von einem Strudel ergriffen, hilflos in den Sessel fiel. Nur ganz allmählich gewann sie ihre Fassung wieder.
Auf dem kleinen Tisch lag ein großes rotes Buch; Sascha hatte mit Aljoscha, um ihn zu unterhalten, Blumen hineingeklebt, die sie im Sommer gepresst hatte.
Dieses Buch erzählte wahrlich die Geschichte des ganzen Sommers. Hier, die Maiglöckchen, gelb geworden und runzelig. Wie fest waren die runden Blütenkelche gewesen, wie hatten sie geduftet, als Sascha sie bei einem Spaziergang mit ihrem Mann im Birkenwäldchen brach. Wie behutsam und mitfühlend war er damals mit ihr umgegangen, und wie wohl hatte ihr seine schlichte, aufrichtige Güte getan.
Dann blühten die Vergissmeinnicht. Da sind sie ja! Wie gut ist ihr zartes Blau erhalten, und wie gut ist jener Tag in Erinnerung, als sie sie pflückte. Es war heiß, der Himmel war ebenso blau wie die Vergissmeinnicht, Sascha wollte baden gehen, aber an der Badestelle hielten sich ihr Mann und Iwan Iljitsch auf, und so musste sie warten. Sie spazierte am Fluss entlang und pflückte diese
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