Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
reichten das Weihrauchfass, führten die Kollekte durch und sprachen mit den Gläubigen. Sascha war froh, ein Teil der Menge zu sein. Darin lag eine gewisse Sicherheit, Freiheit, die Sascha in ihrer gegenwärtigen Gefühlslage so dringend brauchte.
Am frühen Morgen des nächsten Tages ging Sascha wieder in die Kirche, und wieder wurde sie Teil des Gesangs und der Menge. Eine andächtige Stimmung erfüllte sie, und sie stand während der gesamten Messe in tiefes Gebet versunken. Als die Kinder die Kommunion empfingen, wurde es laut und betriebsam, und Sascha beobachtete, wie anlässlich des bevorstehenden Feiertages lange Tische gedeckt wurden. Mit geübter Leichtigkeit trug das Gesinde große Teller mit Brot und Kannen mit Kwas 35 auf und brachte Besteck, Kelche und Kellen. Einer der Mönche begann voller Begeisterung von selbstgebrautem Bier, Kisel 36 und dem Fisch zu erzählen, den es am Abend geben werde. Sascha mutete der Gedanke an Leibliches unerträglich an.
Sie kehrte für einige Minuten in den Gasthof zurück, um sich etwas zu stärken, und begab sich dann erneut in die Kirche.
«Wo kann man hier die Beichte ablegen?», fragte sie die Pilgerinnen, die vor dem Fasten alle heiligen Orte aufsuchten.
«Dort, beim Vater Fjodor, in der neuen Kirche. Kommen Sie mit uns, liebe, gute Frau, lassen Sie uns gemeinsam beichten gehen.»
Sascha schloss sich den Frauen an, und sie durchquerten lange Korridore und Säulengänge, bis sie zur Tür des Vater Fjodor gelangten.
Sobald Sascha zurückblieb, riefen die gläubigen Frauen ihr zu und umsorgten sie mit besonderem Wohlwollen.
«Setz dich, gute Frau, bleib sitzen, hier, hier ist es gut.»
Die Zelle von Vater Fjodor war im oberen Geschoss; die Tür des Raumes führte auf einen Arkadengang, der einen großen, gepflasterten Platz umgab. Zu ebener Erde befand sich dort eine schöne, neue Kirche, in der die Abendmesse gelesen wurde.
Zu Vater Fjodor gingen jene, die beichten wollten. In der Mitte des Vorzimmers saß bereits ein Gläubiger, der in einem Gebetbuch las, während er auf die Beichte wartete.
«Gehen nun Sie!», sagte eine der Pilgerinnen und stieß Sascha an. Sie hatte in einem der Mönche ihr Patenkind erkannt, das sie seit der Kindheit nicht mehr gesehen und dem sie ein Bündel mit Geschenken von den Verwandten mitgebracht hatte.
«Ich unterhalte mich noch ein wenig mit ihm. Bei Gott, wie du dich verändert hast! Und wie ist es dir hier, fällt es dir schwer, Stepascha? »
«Am Anfang schien es sehr schwer, aber jetzt geht es, ich hab mich dran gewöhnt. Am schlimmsten ist es, den Psalter bei den Toten zu lesen. Da bekomm ich’s mit der Angst.»
Sascha öffnete leise die Tür zur Zelle des Vater Fjodor und trat in das kleine, dunkle Zimmer, das nur von einer Wachskerze erleuchtet war.
Ein vollkommen weißer, hochbetagter Mann saß an einem Lesepult und blickte kaum zu Sascha auf. Seine Augen waren ausdruckslos. Er war ein lebender Toter. Die Erschöpfung, die Kämpfe und Entsagungen eines langen Lebens hatten ihre Spuren im faltigen Gesicht hinterlassen. Es war vollkommen unbewegt, gleichgültig und streng.
«Wie ist der Name?»Mit monotoner Stimme begann er, Sascha die Beichte abzunehmen.«Verheiratet? Worin hat sie gesündigt? Ihren Mann betrogen? Glaubst du an Gott? Beachtest die Fastenzeit, zweifelst nicht am Glauben? Nun, Gott wird es vergeben.»
Vater Fjodor erhob über Sascha das Epitrachelion 37 und sprach sie von ihren Sünden los. Aber sprach auch Sascha selbst sich von ihren Sünden los?
Nach der Beichte ließ Sascha sich ermattet auf einer Bank nieder und wartete auf ihre Gefährtinnen; dann gingen sie hinunter in die Kirche, ein Mönch las die Unterweisungen; Sascha aber war bereits so müde, dass sie der Lesung nicht mehr folgen konnte, und schließlich dämmerte sie ein.
Als sie wieder in ihre Bleibe kam, bemerkte sie, dass sie neun Stunden in der Kirche verbracht hatte. Sie kleidete sich aus, warf sich auf das unbequeme Bett mit den herausragenden Metallfedern und dem kleinen harten Kissen und schlief, ohne sich einen Gedanken oder eine Erinnerung zu gestatten, fest ein.
IV
Getrocknete Blüten
Die Reise ins Dreifaltigkeitskloster brachte Sascha völlige Ruhe; gleichwohl bedeutete sie lediglich eine kurze Ablenkung von dem Aufruhr in ihrem Innern. Als sie zum Sommerhaus zurückkehrte, war ihr erster Gedanke, ob Iwan Iljitsch bereits abgereist sei und ob sie noch einmal seine Musik hören werde. Als sie sich dem Haus
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