Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
Bauernmädchen und Bauersfrauen getan. Unvermittelt erinnerte sie sich daran, dass sie alles, was ihr teuer war, verloren hatte, und sie warf die Sense hin, nahm Aljoscha bei der Hand und lief schnellen Schrittes fort.
«Wollen wir dort ein wenig ausruhen? Was meinen Sie?», fragte Sascha, die kaum die Tränen zurückhalten konnte, ihre Gefährten.
«Möchten Sie nach Hause, Alexandra Alexejewna? Was ist Ihnen?», erkundigte sich mit zärtlicher Anteilnahme Kurlinski.
«Es ist nichts, ich erinnerte mich plötzlich meiner Kindheit auf dem Land. – Reichen Sie mir Ihre Hand, Iwan Iljitsch», sagte Sascha; einer unwillkürlichen Regung folgend, suchte sie bei ebenjener Hand Beistand, die so machtvoll das Leid ihrer Seele gelindert und sie mit dem Leben versöhnt hatte.
Iwan Iljitsch errötete, nahm Sascha beim Arm und blickte unbestimmt in die Ferne. Er war erstaunt über die Entschlossenheit und Selbstverständlichkeit, mit der Sascha um seine Hand gebeten hatte.
Als sie den Hügel erklommen hatten, war Sascha wieder ruhig; sie wählte eine Stelle im Schatten aus und lud alle ein, Platz zu nehmen. Es war sehr heiß. Aljoscha sammelte Beeren und steckte sie sich in den Mund, Iwan Iljitsch streckte sich mit offensichtlichem körperlichem Wohlbehagen auf dem Gras aus, zog aus einem der Haufen ein Bündel Heu und legte es sich als Kissen unter den Kopf.
Kurlinski rezitierte ein Gedicht von Tjutschew 26 :
«Wenn Gott nicht will – das Glück lässt sich nicht zwingen,
Das Glück der Liebe – auch durch Leiden nicht.
Doch eines kannst durch Leiden du erringen:
Den Frieden in dem ew’gen Licht.»
Von allen Seiten zirpten die Heuschrecken, und in den flimmernden Strahlen der Sonne schwärmten winzige Sommerfliegen.
«Wie schön! Welche Kraft des Sommers in allem!», sagte Sascha.
«Mama, schau doch, wie die Fische Kringel machen! Lass uns einmal hier angeln gehen», sagte Aljoscha und blickte gebannt aufs Wasser.
«Ja, gut», antwortete Sascha zerstreut. Sie sann über ihr Gespräch mit Iwan Iljitsch nach. Der Gedanke, dass alles im Leben seine makellose Reinheit verlöre, wenn das Menschliche, und sei es auch in Gestalt der Liebe, hinzuträte, bedrückte sie. Kann man denn eine solche Begeisterung für die Natur empfinden und sich ihrer erfreuen, wenn man jemanden liebt, der weit weg ist? Man kann es nicht. Alles erlischt, alle Schönheit und alles Glück verblassen, wenn der geliebte Mensch nicht bei dir ist. Die makellose Beziehung zur Natur wird verdorben durch die Liebe.
Kann man denn die Musik allumfassend lieben, wenn der geliebte Mensch nicht Teil davon ist? Nein, man wird sie allein sogar anders in sich aufnehmen als zu zweit.
Geht man denn eine Ausstellung besuchen, wenn man lange Zeit ohne den geliebten Menschen ist? Mit welcher Begeisterung aber geht man gemeinsam! Doch nur dem, der ungebunden und frei ist von der menschlichen Liebe, ist jenes reine, jungfräuliche, vollendete Entzücken vergönnt, welches Natur, Musik, Kunst und das Glück der Familie geben können…
«Allmächtiger Gott, beschütze mich vor dieser Heimsuchung!», betete Sascha bei sich.«Bewahre meine Reinheit und hilf mir, Dich zu lieben, in der Natur, in der Kunst und in allem, das von Deinem lauteren Born ausgeht.»Sie erhob sich und ging, nachdem sie sich von ihren Gefährten verabschiedet hatte, langsam und nachdenklich nach Hause.
ZWEITER TEIL
I
Der Sommer geht dahin
Der Sommer verflog für Sascha wie ein Traum. Die Zeit gliederte sich in Tage, an denen Iwan Iljitsch spielte, und Tage, an denen er nicht spielte. Letztere verbrachte Sascha angestrengt damit, sich zu amüsieren, zu betätigen, zu zerstreuen; sie war nervös, erdachte, nur um die Zeit zu vergessen, fieberhaft Aufgaben, deren Erledigung mitunter nicht unbedingt nottat. Allein in Gegenwart Iwan Iljitschs, auch wenn er nicht musizierte, fand Sascha innere Ruhe und war frohen Mutes.
Oft machten sie lange Ausflüge in großer Gesellschaft: Sascha und Pjotr Afanassjewitsch, Kurlinski und seine Cousine Kate, Iwan Iljitsch, der kleine Aljoscha und Zwetkow, der häufig aus der Stadt zu Besuch kam, waren mit von der Partie. Manches Mal nahmen sie Proviant mit und waren lange unterwegs; sie wanderten bis zu den nächsten Ortschaften oder in die Wälder und verbrachten ganze Tage in der Natur, sammelten Pilze, entdeckten neue, schöne Gegenden, und wenn sie des Abends heiter und erholt zurückkehrten, lauschten sie der wundervollen Musik Iwan
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